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Das Neurotypische Syndrom 17 – Reden und Denken

*** „Wenn ich manchmal die NTs reden höre, dann denke ich: ‚Irgendwann wird sich schon irgendein Sinn ergeben.‘“ – Ausspruch einer unbekannten Autistin ***

 

Ihr wärt dann sicher sehr genervt. Wenn ich das aber mal mit euch machen würde, dann wäre das für euch sehr verwirrend, findet ihr nicht? Ihr macht das regelmäßig mit mir. Ich bin nicht euer Gedankensortierer. Ihr denkt bitte eure Gedanken, ich denke meine. Das ist aber eure Aufgabe. Wenn ihr das tut, dann macht ihr es zu meiner Aufgabe, eure Gedanken zu ordnen. Dies hier ist ein Text für alle NTs, die einfach drauflosreden, wenn sie mit mir sprechen.

 

Für alle die, die jetzt genervt oder irritiert sind:

Ich habe im ersten Absatz die Reihenfolge der Sätze umgedreht. Wenn man bei diesem Absatz mit dem letzten Satz beginnt und sich dann Satz für Satz zurücktastet, dann sollte er verstehbar sein. Ich habe das getan, um nachvollziehbar zu machen, wie sich es sich für mich anfühlt, wenn ich das, was der andere zu mir sagt, erst mal ordnen und strukturieren muss, um es verstehen zu können.

Ja, das ist nervig.

Ja, das ist irritierend.

Und anstrengend ist es auch.

Es ist richtig viel Arbeit.

 

Und das geht mir beinahe ständig so, wenn NTs mit mir reden.

 

Es gilt nicht für alle NTs, aber mindestens für die Hälfte von ihnen: Sie überlegen vor dem Reden nicht, was sie sagen wollen, sondern sie reden einfach drauflos. Dabei lassen sie sich selber davon überraschen, was denn jetzt wohl dabei rauskommt wird, wenn sie reden. Natürlich wissen sie, wenn sie das Reden beginnen, was sie ungefähr thematisieren wollen. Aber das, was sie dann sagen, hat weder Struktur noch Richtung. Sie reden alles daher, was ihnen gerade einfällt und gehen wie selbstverständlich davon aus, dass ich da Ordnung und Struktur reinbringen werde.

Ein ehemaliger Chef von mir kannte seine Art zu reden gut und sagte mir lachend:

„Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“

 

Ja, in der Tat. Woher sollst du das auch wissen?

Aber jetzt mal ganz im Ernst – bin ich jetzt hier dein unbezahltes Hilfsgehirn?

Was benutzt du mich, um rauszukriegen, was du denkst?

Findest du das fair?

Kann ich was für deine Denkfaulheit?

(Achtung! Es geht hier nicht um Dummheit oder Klugheit. Es geht nicht um mehr oder weniger intelligent. Dieser Chef, von dem ich hier spreche, war hochbegabt. Er war ein außergewöhnlich gebildeter und kluger Mann. Es geht hier um Denkfaulheit).

 

Wenn die Denkfaulen mich ungefragt benutzen wollen, um für sie zu denken, dann fühle ich mich regelmäßig missbraucht. Ich weiß, dass diese Art, mit Gedanken umzugehen, ein integraler Bestandteil des Neurotypischen Syndroms ist. Dennoch will ich nicht, dass so mit mir umgegangen wird.

Ich hab‘ genug mit meinen eigenen Gedanken zu tun. Ich will nicht auch noch für andere denken müssen.

 

Wenn ich mein Sprechen mit dem der NTs vergleiche, dann fällt mir vor allem auf, dass ich viel häufiger als sie Fragen stelle wie diese:

„Habe ich dich jetzt richtig verstanden, dass du sagst …  ?“

„Verstehe ich dich richtig, dass dir wichtig ist … ?“

„Wenn ich dich so reden höre, dann habe ich den Eindruck, dass du der Meinung bist … habe ich dich da richtig verstanden?“

 

Wenn ein NT mit mir redet, muss ich diese Fragen stellen, um zu verstehen, was er mir überhaupt mitteilen will.

Wenn ich mit einem NT rede, dann hat er solche Fragen in aller Regel nicht nötig, weil mir schon vor Beginn des Sprechens sehr deutlich ist, was ich will und warum ich das will. 

 

Ich rede – verglichen mit durchschnittlichen NTs – nicht viel. Das gebe ich gerne zu. Und es gibt NTs in meiner Umgebung, die leiden sehr darunter, dass ich so wenig rede. Aber wenn ich rede, dann ist das, was ich sage, meistens „schrankfertig“. Das kann man direkt verstehen, ohne nachfragen zu müssen.

 

Nochmal für die NTs unter meinen Lesern:

Ja, natürlich seid ihr zu verstehen, wenn ihr redet. Aber häufig ist es so mühsam für mich, rauzukriegen,

a) was ihr eigentlich von mir wollt

b) was der Anlass für eure Reden ist

c) ob ihr (1) Forderungen an mich habt oder ob ihr (2) mich informieren wollt (oder ob ihr (3) einfach nur redet, um sozialen und emotionalen Kontakt herzustellen).

 

Damit ihr euch in meine Arbeitsleitung einfühlen könnt, wenn ich euch zuhöre -

So ungefähr fühlt sich das für mich an, wenn ihr mit mir redet:

 

Natlürcih sied rhi uz vsertehen, nedn riw deren aj dcstueh mitnieander. Areb gulabt rim – newn hci hcint os eivle Geknadneirostauerfgaben rüf ceuh übrenmehen rüwde, nadn msüsett rhi dlamrei sloange itm irm deren, bsi hci vernetsehn wdrüe, wurom se ceuh etnegilich ghet. (Vlieliehct wräe ceuh sad sagor chert, iwel rhi nadn conh mher imt imr deren ktnönet. Aebr rim wreä sad nhcit chert! Dnen ceuh uzuzheörn, knan hser, hser msahüm rüf chim neis).

 

 

 

Introvertierte NTs und extravertierte NTs

 

Bislang habe ich in diesem Text nur über das Redeverhalten von NTs gesprochen, die eher extravertiert sind. Aber der Vollständigkeit halber: Es gibt wichtige Unterschiede im Redeverhalten zwischen Introvertierten und Extravertierten.

 

Es gibt diesen Dreiklang aus Reden und Denken, der für Introvertierte und Extravertierte unterschiedlich zu sein scheint:

 

Für Extravertierte gilt eher:

Reden – Denken – Reden

Mit anderen Worten: Ich rede einfach mal drauflos. Vielleicht denke ich dann auch mal was, aber erst mal rede ich, ohne zu denken - ausgiebig.

 

Für die Introvertierten gilt eher:

Denken –Reden – Denken

Mit anderen Worten: Ich denke erst mal nach. Vielleicht rede ich dann auch mal was. Aber erst einmal denke ich, ohne zu reden - ausgiebig.

 

Wenn introvertierte NTs mit mir reden, dann habe ich meistens nicht diese Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Das haben sie bereits im Kopf gemacht. Aber sehr häufig stelle ich in Gesprächen mit introvertierten NTs fest, dass sie davon ausgehen, dass ich das gleiche Vorwissen habe wie sie. Und das habe ich ganz oft nicht.

Nehmen wir mal diese Situation:

Ich arbeite mit einem introvertierten NT im Projekt FORWARD. Da kann dann ein Dialog zwischen uns ganz leicht so aussehen:

NT:      „Du, der Dr. Mayer bittet darum, dass die Statusberichte zum Projekt Eriwan jeweils am Montag aktualisiert sind und auf dem Projektlaufwerk liegen.“

Stiller: „Moment – wer ist Dr. Mayer?“

NT:      „Das ist der neue Projektleiter des Projekts Eriwan.“ Der kommt von VPS. Den Dr. Hubermüller aus FOH, den haben sie abgesägt.“

Stiller: „Und was ist das Projekt „Eriwan“?

NT:      „Ach so, Dr. Mayer hat das Projekt FORWARD jetzt umbenannt in Projekt Eriwan. Verstehst du?“

Stiller: „Im Prinzip ja.“

 

Für die eher introvertierten NTs unter meinen Lesern:

Damit ihr euch in meine Arbeitsleistung einfühlen könnt, wenn ich euch zuhöre -

so ungefähr fühlt sich das für mich an, wenn ihr mit mir redet:

 

Ech schnt ft ncht klr z sn, dss ch ere Gdnkn ncht knne. Drübr hnas schnt ch ft ncht klr zu sn, wlchn Gdnk hr asgsprchn hbt nd wlchn ihr nr gedcht hbt. Ich knn er Gdnkn br ncht lsn - so klg s ach sn mgn. Dshlb mcht ech btt klr, ws mn Vrwssn st, bevr ihr anfngt, mt mr z rdn. Snst versth ch nchts nd mss gnz vl nachfrgn.

 

 

Das hier war ein Text für alle NTs, die einfach drauflosreden, wenn sie mit mir sprechen. Wenn ihr das tut, dann macht ihr es zu meiner Aufgabe, eure Gedanken zu ordnen. Das ist aber eure Aufgabe. Ihr denkt bitte eure Gedanken, ich denke meine. Ich bin nicht euer Gedankensortierer. Ihr macht das regelmäßig mit mir. Wenn ich das aber mal mit euch machen würde, dann wäre das für euch sehr verwirrend, findet ihr nicht?

 

Ihr wärt dann sicher sehr genervt.

Kommentare: 1 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    nT-Aushalter (Dienstag, 04 August 2020 09:21)

    Schöne Beispiele, ja so sind sie. "Rechts ist, wo der Daumen links ist!" NT - Logik
    Alles chlor...
    Bekannte von mir auf Whatsapp im Originalton:
    "Ich bin gerade rausgegangen. Sie ist gekommen. !" Alles klar, Pronomen, jedes Mal für mich eine echte Herausforderung, was und wer denn nun gemeint ist. Ping-Pong Whatsapp oder Mail. Meine Aufgabe, genau, Gedanken zu sortieren, rumzuraten, zwischen Delphi-Orakel und Eratikum.
    Oder es wird Urlaub bis ins kleinste Detail geplant, doch ohne einen Termin zu nennen - Die Kurzfrage meinerseits mit "Wann?" bleibt unbeantwortet oder es kommt nur Dünnsinn.
    Anderes Beispiel: Vor Mittagessen: "Nimmst Du Salat oder Melanzane!" - Ich sage Melanzane. Ich bin davon ausgegangen, dass meine Bekannte da was im Kühlschrank hat. Als ich später von der Tankstelle zurückkomme, ist sie enttäuscht, dass ich keine Melanzane mitgebracht habe. Ja war denn vom Kauf irgendwann die Rede?! Nix genaues weiß man nicht...
    Oder habe ich Asperger?