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Wir schaffen das

- nö, tut ihr nicht.

 

***

Das, was ich hier wiedergebe, ist meine Meinung. Ich habe zu wenige Zahlen, um belastbare Aussagen machen zu können. Es geht also um Meinung, nicht um Fakten. Aber wer sich beim Lesen dieses Texts angesprochen fühlt und sich fürchterlich aufregt, der ist vermutlich gemeint.

***

 

Es ist jetzt ein paar Monate her, da sprach ich mit einem männlichen Asperger-Autisten in einem Coaching-Gespräch seine Ehe durch. Dabei ergab sich auch dieser Dialog:

 

Stiller: „Wusste deine Frau vor der Hochzeit, dass du Autist bist.“

AS: „Ja, wir haben ausführlich darüber gesprochen.“

Stiller: „Und? Was hat sie dazu gesagt?“

AS: „Sie hat gesagt, dass wir das schaffen.“

(Pause im Dialog. Beide schweigen eine Weile).

Stiller: „Lass mich raten: Deine Frau hat kein einziges Fachbuch über Autismus gelesen.“

AS (schweigt, nickt und grinst).

 

Ich habe den Eindruck, dass das häufiger vorkommt:

Eine NT-Frau verliebt sich in einen männlichen AS. Der AS verliebt sich zurück. Beide beschließen, eine langfristige Beziehung zu führen. Der AS informiert seine zukünftige Partnerin, dass er Autist ist und warnt sie: Es ist für einen NT nicht einfach, mit einem AS zu leben. Die Frau nimmt das zur Kenntnis. Und sie informiert sich kein bisschen oder maximal oberflächlich darüber, was das Asperger-Syndrom eigentlich ist.

Sie ist verliebt und sie weiß, dass diese Liebe alle Hindernisse überwinden wird.

Und das zu wissen reicht ihr.

Sie ist sich ihrer Liebe sicher und weiß, dass sie das schaffen wird.

 

Jo.

Die Macht der Liebe.

(An dieser Stelle gestatte ich mir, tief zu seufzen).

 

 

Von Autisten und Giraffen

 

Wenn diese NT-Frau sich – sagen wir mal – eine Giraffe zum Partner wählen würde, dann würde sie vermutlich schubkarrenweise Fachbücher über Giraffen anschaffen. Sie würde alles darüber lesen, wie man eine Giraffe hält, was Giraffen fressen, wie ihre Schlafkammer ausgestaltet sein muss, worauf man achten muss, damit die Giraffe sich wohl fühlt … und so weiter.

 

Manchmal bin ich bei Hundeliebhabern daheim – was die alles über Hunde im Bücherregal haben … alle Achtung!

Manchmal war ich bei Weinkennern zu Gast – ich hatte ja keine Ahnung, dass so viele Bücher über Wein auf dem Markt sind!

Und jetzt schauen wir mal gemeinsam in das Bücherregal der NT-Frau, die sich in den AS verliebt hat und beschlossen hat, eine langfristige Beziehung mit ihm zu führen. Und in diesem Bücherregal finden wir was?

Ich weiß es nicht. Ich habe zu wenige Zahlen, um belastbare Aussagen machen zu können. Aber ich nehme doch mal schwer an, dass da ein, maximal zwei Bücher über AS zu finden sind. Und nein, vermutlich keine Fachbücher, sondern eher lebensnahe anekdotische Schilderungen über Asperger-Autismus.

 

Würde eine NT-Frau, die beschlossen hat, mit einer Giraffe zu leben, sich Bücher anschaffen, in der anekdotenhaft das Leben einer einzelnen Giraffe beschrieben wird und sich mit dieser Information über Giraffen zufrieden geben?

 

 

Liebe und Verliebtheit

 

Fast alle NTs, die ich kenne, sind nicht in der Lage, Verliebtheit und Liebe zu unterscheiden. Wenn wir verliebt sind, ist der Hormonspiegel in unserem Gehirn im Ungleichgewicht. Und dann denken und fühlen wir Dinge, die – sagen wir mal – ungewöhnlich für uns sind. Was auf einmal alles möglich wird, wenn man verliebt ist! Und welche Schwierigkeiten man - einfach mal eben so – meistern wird! Und wie wunderbar und zartrosa die Zukunft sein wird! Die Liebe überwindet alle Schwierigkeiten, Hindernisse und Grenzen!

Fabelhaft!

 

Ja, fabelhaft. Aber nicht real.

 

Wenn eine Beziehung zwischen zwei Menschen länger dauern soll als die Phase der Verliebtheit und vor allem länger fruchtbringend sein soll als in der Phase der Verliebtheit, dann sind Vorkehrungen notwendig. Das gilt ganz besonders dann, wenn die beiden Partner so unterschiedlich sind, wie NTs und AS das eben sind.

 

An die NT-Frauen da draußen, die sich in einen AS verliebt haben:

Ja, dieser AS ist wunderbar, das glaube ich dir.

Und auch er findet dich ganz toll. Ihr seid wirklich wie füreinander geschaffen, keine Frage.

Wunderbar das alles – da ist ja auch gar nichts gegen zu sagen.

Aber wenn du mit ihm zusammenlebst, dann hast du ab jetzt einen Alien im Haushalt, einen Außerirdischen.

Und das bleibt so.

 

Wie das Geschick es so will: Der durchschnittliche AS-Mann wird nie in seinem Leben einem NT ähnlicher als zu dem Zeitpunkt, wo er verliebt ist:

·         Er wird gesprächig auch bei Themen, wo es nicht um seine Spezialinteressen geht.

·         Er entwickelt vielleicht sogar Anflüge von Romantik.

·         Er interessiert sich für deine Freunde und deine Familie.

·         Er will viel mit dir unternehmen.

·         Er wird gesellig.

·         Er ermüdet kaum bei Sozialkontakten.

·         Und so weiter.

 

Er ist verliebt.

Er findet dich und sein Leben mit dir wunderbar.

Da ist auch nichts gegen zu sagen.

 

Aber du erlebst nicht ihn. Du erlebst seinen Avatar.

Durch seine Verliebtheit steht ihm wesentlich mehr Energie zur Verfügung als sonst. Jetzt kann sein Avatar beinahe echt wirken.

Die Wahrscheinlichkeit, dass du ihn mal ohne Maske erlebst, ist sehr, sehr gering.

Denn er will dich nicht vor den Kopf stoßen. Vor allem will er dich nicht verlieren.

Und wenn ein AS-Mann irgendwas von NT-Frauen weiß, dann ist es dieses:

Sobald er sich ihnen ohne Maske zeigt, sind sie weg. Dann sind sie nicht nur ein bisschen weg, dann sind sie ganz weg. Und sie kommen nicht wieder.

 

An alle NT-Frauen da draußen, die in einer Beziehung mit einem AS leben:

Habt ihr ihn schon mal ohne Maske erlebt?

Wisst ihr, wie er ist, wenn er sich nicht an die NT-Welt anpasst?

 

Wenn eure Beziehung hält – was ich euch von ganzem Herzen wünsche -, dann lässt das mit der Verliebtheit irgendwann nach. Dann schwindet diese Zusatzenergie allmählich wieder. Alltag schleicht sich ein. Und dann erhebt so nach und nach die Wirklichkeit ihr hässliches Haupt: Du hast da ein Alien im Haushalt. Das wohnt jetzt dauerhaft bei dir. Und nein, all die Dinge, von denen du dachtest, dass sie sich bei ihm ändern – die ändern sich nicht. Die bleiben so. Die werden sogar schlimmer:

 

·         Er wird einsilbiger.

·         Seine Begeisterung für soziale Unternehmungen lassen nach.

·         Seine Begeisterung für gemeinsame Unternehmungen mit dir auch.

·         Er wird sich stärker von deinen Freunden und deiner Familie zurückziehen.

·         Er braucht spürbar mehr Zeit für sich selber.

·         Er fängt wieder an, so viel von seinem Spezialinteresse zu reden.

 ·       Wenn du die Beziehung klären willst und mal wieder im Gespräch mit ihm menschliche Wärme spüren willst, wird er sich innerlich distanzieren, um aus der Distanz die Beziehung besser analysieren zu können. Dabei kann dir innerlich ziemlich kalt werden. Gerade im Stress wirst du merken, dass du immer emotionaler wirst und er immer rationaler wird. Zum Schluss wirst du den Eindruck haben, mit einer Maschine, einem Stein oder einem Eisberg zu reden. 

·        Du wirst seine Nähe suchen, er wird die Distanz zu dir suchen. Je mehr du seine Nähe brauchst, desto mehr wird er auf Distanz gehen.

·     Über seine Gefühle redet er kaum noch. Du weißt zwar, dass sie da sein müssen, aber sie sind irgendwo tief in ihm drin verborgen.

·         Seine Zeichen der Zuneigung werden deutlich weniger.

·         Und so weiter.

 

Wenn du eine NT-Frau bist, die darauf angewiesen ist, regelmäßig und oft emotionale Wärme von ihrem Partner zu bekommen, dann gib Acht auf dich. Wenn dein AS-Mann dich mag (und davon ist auszugehen, sonst wäre er nicht mit dir zusammen), dann zeigt er das auf seine Weise.

 

Wenn du als NT-Frau dauerhaft eine Beziehung mit einem AS-Mann leben willst, dann musst du emotional und sozial ziemlich autark sein. Das, was du brauchst, um emotional und sozial aufzutanken, entzieht ihm fast immer Energie. Dir das zu geben, was du brauchst (oder besser: zu brauchen glaubst), das kann er sich auf Dauer gar nicht leisten. Sonst wird er chronisch krank.

Achte also frühzeitig darauf, dass du dir ein soziales Netzwerk aufbaust und erhältst, in dem du sozial und emotional auftanken kannst. Wenn die Phase der Verliebtheit vorbei ist, dann ist dein AS-Mann als Seelentankstelle für NTs kaum noch zu gebrauchen.

 

 

Wer gibt was in der Beziehung NT – AS?

 

Ich habe mit einigen NT-Frauen gesprochen, die in einer Beziehung mit einem AS-Mann waren oder sind. Bei all diesen Frauen hatte ich den Eindruck, dass die Maßstäbe verrutscht sind. Deshalb hier nochmal kurz und knapp:

 

1

Wenn dein AS-Mann (wenn er nicht verliebt ist) mit dir sozial kommuniziert und du dabei nicht merkst, dass er ein Autist ist, dann betreibt er gerade Hochleistungssport. Dann tut er etwas, was ihn ganz viel Energie kostet.

 

2

Wenn du dich als NT-Frau beklagst, wieviel Kraft es dich kostet, mit deinem AS-Mann zu kommunizieren, dann beantworte bitte diese Frage:

Wie oft und wie lange hast du schon mit deinem AS-Mann so kommuniziert, dass er in dieser Kommunikation nicht merkte, dass du ein NT bist?

Oder anders ausgedrückt:

  1. Wie lange und wie oft hast du mit ihm schon so kommuniziert, dass ihn das keine Kraft kostete?
  2. In welchem Maße bist du in der Lage, in sozialen Situationen so zu kommunizieren, dass du von einem AS praktisch nicht zu unterscheiden bist?
  3. Wenn du total genervt bist von deinem Alien daheim und die Wohnung verlässt, dann bist du augenblicklich unter deinesgleichen. Egal, auf welchen Menschen du jetzt stößt – du kannst sehr sicher sein, dass er ein NT ist und dass er so mit dir kommunizieren wird, wie das gut ist für dich. Du kannst jetzt aufatmen, auftanken und dich erholen. Wenn dein Mann total genervt von dir die Wohnung verlässt, dann befindet er sich auf einem fremden Planeten. Da findet er da draußen buchstäblich niemanden, der so mit ihm kommunizieren würde, wie es gut für ihn wäre. Im Gegenteil – egal wer mit ihm jetzt Kontakt aufnimmt – es wird ihn Kraft kosten. Kraft, die er nicht mehr hat.

 

Du kannst dir eine Beziehung zwischen AS-Mann und NT-Frau in etwa so vorstellen:

Ihr steht 100 Meter voneinander entfernt. In der Phase der Verliebtheit kommt er ungefähr 90 Meter auf dich zu, und du gehst ungefähr zehn Meter auf ihn zu. Dort trefft ihr euch und seid glücklich. Aber er muss für 90 Meter Entfernung von seiner Sauerstoffquelle die nötige Luft mitbringen. Du musst nur 10 Meter überwinden. Er kann da, wo er jetzt ist, nicht dauerhaft bleiben. Er wird sich auf – sagen wir mal 60 oder 70 Meter zurückziehen müssen. Dabei entfernt er sich von dir.

Es wäre jetzt eigentlich an dir, dich an ihn anzupassen, findest du nicht? Nur so aus Gründen der Gerechtigkeit. (Ich weiß natürlich, dass du das als NT-Frau nicht so ohne weiteres kannst. Aber so ungefähr sind die Energieaufwände, die ihr beide während der Beziehung zu leisten habt).

 

Also:

Nach allem, was ich sehen kann gilt:

Wer auch immer als NT mit einem AS in einer Beziehung lebt – der AS muss deutlich mehr Energie aufwenden, um diese Beziehung leben zu können.

 

Auf den Punkt gebracht:

Wann immer du dich als NT laut oder leise beklagst, wieviel Kraft dich diese Beziehung zu dem AS kostet, frage dich bitte, ob es dir gelingt (jemals gelungen ist), in seine Welt zu wechseln, oder ob du bis jetzt immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen bist, dass er in deine Welt wechselt.

Wärst du in der Lage, in seine Welt zu wechseln (also dich so zu verhalten, dass du unter AS nicht auffällst)?

Er überlebt in deiner Welt. Wärst du in der Lage, in seiner Welt zu überleben?

Das ist eine wichtige Frage, denn immerhin verlangst du ja vermutlich sehr häufig, dass er in deine Welt wechselt, sich dort wohl fühlt und dort gemeinsam mit dir irgendwas macht.

 

 

Was das alles kostet

 

Die Idee zu diesem Text kam mir in einem längeren Coaching-Gespräch, in dem mir ein AS-Mann (verheiratet, zwei Kinder), ausführlich seine Ehe mit einer NT-Frau schilderte.

 

Wir sprachen auch über ihn. Er ist jetzt etwas über dreißig Jahre alt. Er ist beruflich sehr erfolgreich, gilt als gut integriert und würde beim Outing vermutlich laufend hören:

„Autist?! Du?! Aber du doch nicht!“

 

Ich fragte ihn schonungslos offen, und er antwortete schonungslos offen. Und hier ist das Ergebnis:

·     Er reißt sich vor lauter Stress wieder dauerhaft die Haare aus. Er hat sich deshalb die Haare ganz kurz schneiden lassen, so dass seine Hände nichts mehr zum Reißen finden.

·      Er hat sich einen Bart wachsen lassen, damit man nicht sieht, dass er sich ständig das Gesicht blutig kratzt.

·      Er hat Magengeschwüre, die sich öffnen. „Dann schmeckt alles nach Eisen“, informierte er mich.

·      Sie haben jetzt eine Herzkrankheit bei ihm diagnostiziert.

 

Und dann hatten wir noch diesen Dialog:

AS: „Mit etwas Glück kann ich 65 Jahre alt werden.“

Stiller: „Und ohne Glück?“

AS: „Dann bin ich froh, wenn ich es bis 50 schaffe - bis die Kinder mich nicht mehr brauchen.“

 

 

Fazit

Wenn du dich als NT in einen AS verliebst und diese Liebe erwidert wird, und ihr beschließt, gemeinsam durch’s Leben zu gehen, dann sei dir bitte immer dessen bewusst:

Wir AS sind die,

·      die eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als ihr

·      die viel häufiger an Depressionen erkranken als ihr

·      die viel häufiger und stärker schwer körperlich erkranken als ihr

·      die eine zehnmal höhere Suizidrate haben als ihr

 

Das liegt nicht daran, dass wir AS krank oder gestört sind. Das liegt daran, dass das Leben in einer NT-Welt für uns in einem tödlichen Maße belastend ist. Würden wir hier von Arbeitsbedingungen im Beruf sprechen, dann hätte die zuständige Berufsgenossenschaft vermutlich schon längst untersagt, dass AS solchen Bedingungen ausgesetzt werden.

 

Überspitzt formuliert:

Du leidest vielleicht in dieser Beziehung. Er stirbt.

Die nackten Zahlen lassen keinen anderen Schluss zu.

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Kommentare: 4
  • #1

    Kikkulade (Sonntag, 15 Dezember 2019 20:14)

    Auf den Punkt gebracht! Danke für diesen Beitrag, Stiller!

  • #2

    Hilde (Freitag, 20 Dezember 2019 05:40)

    Super!!
    Allerdings betrifft das nicht nur Frauen in einer Beziehung zu einem Autisten.
    Männer, die mit einer Autistin leben, machen das nicht anders.
    Und richtig verrückt wird es, wenn dann noch AS-Kinder dazu kommen!!
    (Unsere Ehe/Beziehung hält seit ü20 Jahren, was generell schon einem Wunder gleicht, ohne Autismus *zwinker*)

  • #3

    Annette (Samstag, 05 September 2020 18:10)

    Naja, sehr einseitige Angelegenheit und es werden alle über einen Kamm geschert.

  • #4

    Stiller (Sonntag, 06 September 2020 14:29)

    Wie ich oben schrieb:
    Ich habe zu wenige Zahlen, um belastbare Aussagen zu machen.
    Vielleicht erscheinen die Dinge ganz anders, wenn man viel mehr Interviews führt.

    Jeder darf eine andere Meinung haben.

    Ich habe zu viele Gespräche geführt mit
    a) AS, die wirklich ernsthaft erkrankt waren
    b) NTs, die in einer Beziehung mit einem AS waren oder sind und sich dabei schrecklich unwohl fühlten (aber nicht ernsthaft erkrant waren)
    als dass ich das auf sich beruhen lassen wollte.

    Ja, ich erlebe das als sehr einseitig.