Die Ratschläger 02 – Glaub‘ an dich

Ich halte Ratschläge in sozialen Situationen generell für schädlich. (Ratschläge, um technische Probleme zu lösen, – z.B., wie man einen Motor repariert -, halte ich für völlig ok). Ich kann mich nicht erinnern, mal einen Ratschlag in einer sozialen Situation als nützlich erlebt zu haben.

 

Unter der Überschrift „Die Ratschläger“ will ich in loser Folge die gängigsten Ratschläge auf den Prüfstand stellen und mal aufzeigen, wo ihr destruktives Potenzial liegt.

 

Zu den häufigsten Ratschlägen in sozialen Situationen gehört nach meiner Erfahrung „Glaub‘ an dich!“ Er kann viele Formen annehmen.

„Du schaffst das!“

„Gib dein Ziel niemals auf!“

„Wenn du an dich glaubst, schaffst du das!

„Gib niemals auf!“

Und so weiter.

 

Was ist so schädlich an „Glaub‘ an dich!“?

 

Vielleicht kann ich das an einem krassen Beispiel erläutern. Der Mensch von dem ich hier rede, der hat an sich geglaubt. Der wollte bei uns im Konzern immer Karriere machen und hat buchstäblich alles dafür gegeben. Auch seine Gesundheit. Nach jahrelanger unermüdlicher Arbeit ist er tatsächlich Vorstand geworden. Höher kann man bei uns nicht steigen auf der Karriereleiter. Und danach sah er so müde und ausgebrannt aus, dass ich ernsthaft Sorge hatte, dass er sich was antut. Dieser Mensch hat immer an sich geglaubt. Was ist da schief gelaufen?

 

Ich erlebe das in meinem Beruf sehr häufig:

Dass Menschen an sich glauben und damit über sich hinauswachsen und Ziele erreichen, die jenseits ihrer kühnsten Träume lagen. Ich habe beruflich mit sehr erfolgreichen Menschen zu tun. Und wenn sie dann vor mir sitzen - nach all ihren Erfolgen -, sage ich ihnen manchmal:

„Du hast da ein Loch in der Seele. Ein tiefes, schwarzes Loch. Und das kann man mit Dollarscheinen nicht stopfen.“

 

Ganz konkret gefragt:

Wenn du an dich glaubst – an was glaubst du da eigentlich?

An sich selbst zu glauben ist eine Aufforderung, das klare Denken einzustellen, damit man auf einer emotionalen Welle der Energie seinem Ziel entgegenstreben kann. Aber was sind das für Ziele, die du da hast?

 

Die meisten Menschen, die ich kenne, haben keine Ziele, deren Erreichung ihnen gut tun würde. Sie haben Ziele aus ihrer Kleinkindzeit ungeprüft übernommen oder Ziele akzeptiert, die andere ihnen eingeredet haben. Fast alle Menschen, die ich kennengelernt habe, die sehr zielorientiert an sich glauben, streben irgendeinem Gipfel zu. Und wenn sie den erreicht haben, dann stellen sie fest, dass sie das, was sie dort oben zu finden glaubten, immer noch nicht haben. Sie sind immer noch nicht zufrieden. Sie sind immer noch unausgeglichen. Sie fühlen sich immer noch rastlos und gehetzt. Sie kommen immer noch nicht zur Ruhe. Sie sind immer noch sehr unglückliche Menschen. Und das, obwohl sie alles getan haben, um dieses Ziel zu erreichen, hinter dem das Paradies auf sie wartete.

 

Und jetzt? Drogen? Eine Affäre? Sich totarbeiten? Ein neues, noch höheres Ziel anstreben? Alles kaputt hauen und wieder von vorne beginnen? – Es gibt sehr viele Wege, blind zu bleiben, das wesentliche nicht zu sehen und nicht fühlen zu müssen.

 

Niemand scheint sich innerlich leerer zu fühlen als der, der sein Lebensziel erreicht hat. Woran liegt das?

 

Beinahe alle Menschen, die ich kenne, streben Ziele an, die ich „um zu – Ziele“ nenne. „Um zu – Ziele“ sind Ziele, die einem anderen Ziel dienen: Ich strebe A an, um B zu erreichen. Ich stelle das mal anhand eines fiktiven Dialoges dar:

Stiller: „Was willst du?“

Klient: „Karriere machen. Geld verdienen.“

Stiller: „Was willst du mit dem Geld machen, wenn du es hast?“

Klient: „Ich will ein Haus bauen.“

Stiller: „Was willst du mit dem Haus machen, wenn du es hast?“

Klient: „Drin wohnen natürlich.“

Stiller: „Na, dann los.“

 

Jahre später

 

Stiller: „So, du hast jetzt dein Haus, du wohnst da drin und es gefällt dir. Was willst du?“

Klient: „Karriere machen. Geld verdienen.“

Stiller: „Was willst du mit dem Geld machen, wenn du es hast?“

Klient: „Ein größeres Haus bauen.“

Stiller: „Noch größer?“

Klient: „Ja, irgendwie … ich weiß nicht. Ich hätte gerne noch ein Bad mehr und einen Hobbykeller.“

Stiller: „Na, dann los.“

 

Jahre später

 

Stiller: „So du hast jetzt dein noch größeres Haus, noch ein Bad und einen Hobbykeller und willst immer noch Geld. Wozu?“

Klient: „Eigentlich wollte ich immer nur geliebt werden.“

Stiller: „Ja, das dachte ich mir.“

 

Fazit

Wenn dein Lebensziel ist, geliebt zu werden, dann ist rastlose Aktivität sicher der falsche Weg. Da kannst du an dich glauben, soviel du willst. Wenn du Karriere machen willst, um später zufrieden sein zu können – vergiss es. Wenn du sozial oder sportlich erfolgreich sein willst, um glücklich zu werden – vergiss es. Die allermeisten „um zus“ funktionieren nur in schlechten Filmen.

 

Beinahe alle „um zu – Ziele“, die mir Menschen präsentieren, sind in der frühesten Kindheit entstanden. Das kleine Kind nimmt sich vor, A zu schaffen, um B damit zu erreichen. Aber das beruht auf der Weltsicht eines kleinen Kindes, nicht auf der klaren und rationalen Überlegung eines Erwachsenen. Wenn diese Menschen später anfangen, an sich zu glauben, schalten sie damit das klare Denken aus. Und damit verhindern sie, dass sie ihre Lebensziele einer kritischen, rationalen und erwachsenen Prüfung unterziehen können.

 

Manchmal sage ich Führungskräften, die glauben, dass sie nur an sich zu glauben brauchen:

„Ja, dann glaub‘ dich mal glücklich und zufrieden.“

 

Geld ist immer ein „um zu“ – Ich brauche Geld, um xy zu (hier Verb einsetzen)

Karriere ist immer ein „um zu“ – Ich will Karriere machen, um xy zu (hier Verb einsetzen)

Dasselbe gilt für beinahe alle anderen Ziele, die mir Menschen nennen, wenn ich sie frage, was sie für Ziele im Leben haben.

 

Nach meiner Erfahrung treibt die allermeisten Menschen eine ganz tiefe Sehnsucht an, derer sie sich nicht bewusst sind. Auch diese Sehnsucht stammt aus frühester Kinderzeit. Diese Menschen streben und streben und streben, ohne sich klar zu sein, was ihr innerster Antrieb ist. 

Und so streben sie so ziemlich alle irgendwelche „um zu - Ziele“ an.

Aber dieses „um zu“ ist fast immer Illusion. Als ganz kleines Kind hast du geglaubt, dass du B bekommen wirst, wenn du A erst mal erreicht hast. Aber die Realität kannst du mit deinen Kinderillusionen nicht beeinflussen.

 

Zwischenfazit

So ziemlich alle Menschen, die ich kenne, streben Lebensziele an, die aus ihrer frühesten Kindheit stammen. Sie schalten das klare Denken aus, wenn sie anfangen, an sich zu glauben. Und so jagen sie zeitlebens irgendwelchen Kinderillusionen nach: Wenn ich A erreicht habe, dann werde ich B bekommen.

Das kann man so machen. Ich erlebe das als Vergeudung des Lebens.

 

 

 

 

Wenn die „um zu - Ziele“ erreicht sind, stellen die allermeisten Menschen fest, dass das, wonach sie sich im Tiefsten sehnen, immer noch in weiter Ferne ist. Das löst dann meistens aus

a) tiefe Verzweiflung

b) Resignation

c) weitere rastlose Aktivität

 

Zur rastlosen Aktivität sage ich in meinen Seminaren:

„Dreimal abgeschnitten – immer noch zu kurz!“

 

 

 

Manche Menschen wissen im Innersten, was mit ihnen sein wird, wenn sie ihre Lebensziele dereinst einmal erreicht haben werden und vermeiden diese Gefühle, indem sie eine dieser drei Strategien anwenden:

 

1

Gar nicht erst was anstreben im Leben. (Das Leben plätschert dann die ganze Zeit so vor sich hin und ist irgendwann einfach zu Ende).

 

2

Sich auf dem Weg zum Ziel (unbewusst) selbst sabotieren, um das Ziel nicht erreichen zu müssen. (Solche Menschen stellen sich kurz vor dem Ziel immer selbst ein Bein, binden sich an den falschen Partner oder hören auf Ratschläge anderer).

 

3

Sich Ziele setzen, die sie nie erreichen werden. (Solche Menschen sind Zeit ihres Lebens unterwegs, aber sie kommen nie an).

 

 

 

Selbstverständlich halte ich es für sehr sinnvoll, wenn du Ziele in deinem Leben anstrebst. Aber es müssen deine Ziele sein. Da musst du dich mit dem ganz kleinen Kind in dir zusammensetzen und gemeinsam mit ihm rauskriegen, worum es überhaupt geht: Was ist es, was du tatsächlich willst? Wofür lebst du? Wann lohnt dein Leben? Was ist der Sinn deines Lebens? Das musst du rauskriegen, sonst wird das nichts mit der Lebenszielsetzung. Nach meiner Erfahrung kann dieses „Rauskriegen“ sehr, sehr lange dauern. Aber es lohnt sich.

 

Und noch eins:

Die Antworten auf diese Fragen findest du nicht in Büchern oder in guten Ratsschlägen anderer oder etwa gar im Internet. (In meinem Blog stehen sie auch nicht). Du findest sie entweder in deinem Herzen oder gar nicht.

 

Nach meiner Erfahrung hast du es überhaupt nicht nötig, an dich zu glauben, wenn du deine Ziele anstrebst. Du wirst diesen Quatsch dann sogar als Belästigung oder Behinderung erleben. Wenn du deine Ziele anstrebst, dann ist der Rat „Glaub‘ an dich!“ genauso sinnvoll und hilfreich wie „Friss mehr Dachziegel!“

 

Es ist hier so, wie überall in der Welt des Glaubens:

Wenn du weißt, wer du bist, dann hast du es nicht mehr nötig, an dich zu glauben.

Dann kannst du die Energie und die Zeit, die du bisher auf‘s Glauben verwandt hast, sinnvoller einsetzen.

Und solange du glaubst, an dich glauben zu müssen, solltest du dringend hinterfragen, was du da eigentlich die ganze Zeit tust.

 

Aus dem Verhalten alter Menschen, die sich zusehends dem Tod nähern, schließe ich, dass es ganz furchtbar sein muss, wenn man am Ende seines Lebensweges realisiert, dass man sein Leben zum großen Teil für blödsinnige Ziele vergeudet hat. (Genauso schlimm scheint es zu sein, wenn man feststellt, dass das Leben die ganze Zeit nur so dahingeplätschert ist oder man nichts erreicht hat, weil man seine Zielerreichung laufend sabotierte oder sich unerreichbar hohe Ziele setzte). Das ist anscheinend wie sterben zu müssen, ohne gelebt zu haben. Sterben zu müssen, ohne gelebt zu haben, ist aber kein Schicksal. Das hat jeder selbst in der Hand.

 

Es gibt also Menschen, für die es sehr gut ist, aufzuhören, an sich selbst zu glauben und die besser anfangen sollten sich stattdessen mit etwas sinnvollem zu beschäftigen. Das Leben ist zu kurz, um an sich selbst zu glauben.

 

Ob Sie zu diesen Menschen gehören, müssen Sie selbst entscheiden. 

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