Die Ratschläger 01

Ungefähr 30 Prozent meiner Arbeitszeit bin ich Coach. Ich coache Führungskräfte und Unternehmer des Konzerns, in dem ich arbeite. Ich coache keine Vorstände, aber manche Vorstände habe ich jahrelang begleitet, als sie noch keine Vorstände waren.

 

Wenn ich Kollegen zuschaue, die coachen, stelle ich immer wieder fest, dass wir sehr unterschiedlich in der Welt sind. Sie sind im Gespräch meistens das, was ich „Ratschläger“ nenne.

 

Ich halte Ratschläge in sozialen Situationen generell für schädlich. (Ratschläge, um technische Probleme zu lösen, – z.B., wie man einen Motor repariert -, halte ich für völlig ok). Ich kann mich nicht erinnern, mal einen Ratschlag in einer sozialen Situation als nützlich erlebt zu haben.

 

Ich will die Unterschiede, dieser Art, in der Welt zu sein, mit einem fiktiven Beispiel verdeutlichen:

 

A

Kollege: „Was führt Sie heute zu mir?“

Klient: „Meine Leute machen mich fertig. Keiner hält sich an die Absprachen.“

Kollege: „Was für Absprachen sind das?“

Klient: „Wenn wir Abteilungsbesprechungen machen – niemand hält sich an das, was wir da besprechen.“

Kollege: „Ja, führen Sie denn kein Protokoll?“

Klient: „Sicher führe ich da Protokoll. In jeder Besprechung wird Protokoll geführt. Und es ist auch ganz leicht für die Mitarbeiter: Wenn da ein I am Rand steht, dann bedeutet das, dass das eine Information ist. Steht da ein A am Rand, dann ist das eine Aufgabe. Und direkt neben dem A steht das Namenskürzel des Mitarbeiters, der das zu machen hat. (Seufzt): Das kann doch nicht so schwer sein!“

Kollege: „Habe ich das richtig verstanden: Sie führen das Protokoll?“

Klient: „Ja, sicher. So weiß ich, dass das auch alles richtig ist, was da drin steht.“

Kollege: „Ja, da haben wir auch schon den Knackpunkt: Wenn die Mitarbeiter das Protokoll nicht selber führen, dann identifizieren sie sich auch nicht damit. Lassen Sie die Mitarbeiter reihum das Protokoll führen – jeder ist mal dran -, und wer das Protokoll führt, der hält dann auch nach, dass sich alle an die Absprachen halten …“

 

Ratschläger interessieren sich wenig für die Ursachen der Problematik und noch viel weniger interessieren sie sich für die Welt der Menschen, denen sie da Ratschläge geben. Wird ihnen ein Problem vorgetragen, dann suchen sie nach einem Ansatzpunkt zur Lösung, und auf den stürzen sie sich wie ein Falke. Dann schmeißen sie mit Ratschlägen nur so um sich.

Und damit machen sie es meistens nur noch schlimmer.

 

 

B

Stiller: „Was führt Sie heute zu mir?“

Klient: „Meine Leute machen mich fertig. Keiner hält sich an die Absprachen.“

Stiller: „Was für Absprachen sind das?“

Klient: „Wenn wir Abteilungsbesprechungen machen – niemand hält sich an das, was wir da besprechen.“

Stiller: „Niemand hält sich an die Absprachen? Auch Sie selber nicht?“

Klient (abwehrend): „Doch, ich halte mich natürlich daran. Ich schreibe das Protokoll [beschreibt, wie er das macht] und am Ende bin ich wieder der einzige, der sich an die Absprachen hält.“

Stiller: „Was glauben Sie denn, was der Grund ist, dass Ihre Mitarbeiter sich nicht an die Absprachen halten?“

Klient: „Das frage ich Sie doch! Ich habe schon alles versucht. Ich weiß nicht mehr weiter.“

Stiller: „Was haben Sie denn schon alles versucht.“

Klient (seufzt und beginnt, an den Fingern abzuzählen): „Ich hab‘ es mit freundlichem Ermahnen versucht. Ich hab‘ Patenschaften eingerichtet, dass jeder Mitarbeiter einen bestimmten Aufgabenbereich übertragen bekommt. Ich habe es mit Listen versucht, die öffentlich ausgehängt wurden [zählt noch weitere fünf weitere Ratschläge auf, die er ausprobiert hat].“

Stiller: „Und das hat alles nichts genützt?“

Klient (seufzt und lässt die Schultern hängen): „Gar nichts.“

Stiller: „Wie fühlen Sie sich denn dabei?“

Klient (fest, anklagend): „Ausgenutzt. Alle nutzen mich aus! Ich bin der Depp der Nation! Wenn die mich nicht hätten, dann würde da gar nichts laufen. Ich glaub‘, die brauchen mal ein richtiges Arschloch als Führungskraft, damit die mal merken, was die an mir haben!“

Stiller: „Ausgenutzt … Ohne Sie läuft gar nichts … kennen Sie das auch aus anderen Situationen?“

Klient (gereizt): „Was für Situationen?“

Stiller: „Privatleben, Verein, Freizeit …“

Klient: „Ja, ich leite den Reitverein meiner Tochter. Da ist das auch so. Aber was hat das damit zu tun?!“

 

Und allmählich schält sich hier der Erlebnisbericht eines Menschen heraus, der im Innersten (ohne das zu wissen) zutiefst überzeugt ist, sterben zu müssen, wenn er nicht mehr gebraucht wird. Solche Menschen neigen dazu, wenn sie Führungskraft sind, ihre Mitarbeiter (unbewusst) so zu manipulieren, dass sie sich so dysfunktional verhalten, dass sie als Führungskraft völlig unentbehrlich sind. Ohne sie geht gar nichts – und solange das so bleibt, muss die Führungskraft ihre tief verborgene Todesangst nicht fühlen.

 

Jeder Ratschlag, der diese Dynamik nicht berücksichtigt, muss ins Leere laufen. Ratschläger und Klient entwickeln dann gemeinsam das, was die Transaktionsanalyse ein Psychospiel nennt:

Beide reagieren auf eine Wirklichkeit, die nur in ihrem Kopf existiert:

 

1

Die Führungskraft lebt in einer Wirklichkeit, in der sie sterben muss, wenn sie nicht gebraucht wird.

 

2

Der Ratschläger lebt in einer Welt, in der er beauftragt ist, andere zu besseren Menschen zu machen. (Er muss sterben, wenn er andere nicht mehr (ungefragt) zu besseren Menschen machen kann).

 

 

Und in diesem Psychospiel bestätigen sich beide gegenseitig die Richtigkeit ihrer innersten Überzeugungen. Gleichzeitig versorgen sie sich mit gegenseitig mit großen Mengen negativer Zuwendung: Die Führungskraft kann weiterhin einen Ratschlag nach dem anderen ins Leere laufen lassen und sich beklagen, wie schlecht diese Ratschläge und wie furchtbar diese Mitarbeiter sind. Der Ratschläger kann an dieser renitenten Führungskraft verzweifeln und sie schlussendlich abwerten oder sich selber abwerten. Das kann man so machen. Es garantiert jede Menge negativer Zuwendung. Aber es hilft nicht weiter. Es hilft deshalb nicht weiter, weil beide nicht in der Realität agieren, sondern in einer Wirklichkeit, die nur in ihnen existiert.

 

Ich kann als Coach nur erfolgreich sein, wenn ich mich fest in der Realität verankere und jede Einladung zum Psychospiel erkenne und freundlich aber bestimmt ablehne. Sowas können Ratschläger nicht. Sie haben keine Ahnung, wovon ich hier rede.

 

Bevor ich als Coach einen Auftrag annehme, prüfe ich

a), ob ich kompetent bin und

b) ob der Auftrag ethisch gerechtfertigt ist.

 

Es kam mal eine Führungskraft mit diesem Ansinnen auf mich zu:

„Herr Stiller, meine Frau hat sich von mir getrennt. Helfen Sie mir, dass es mir nicht mehr so viel ausmacht.“

Bei diesem Auftrag wäre ich kompetent gewesen. Aber es wäre unethisch gewesen, so zu handeln.

 

 

Ratschlägern begegne ich in beinahe jeder sozialen Situation. Sobald ein paar Leute zusammenkommen und irgendwer eine Problematik schildert, ist mindestens einer dabei, der sagt:

„Warum machst du nicht einfach …?“

„Warum probierst du nicht mal …“

„Also ich mache da immer …“

 

Ja, warum machst du nicht einfach – eine der beliebtesten Einladungen in ein Psychospiel.

 

Ich ziehe mich dann innerlich immer zurück. Eine Einladung ins Psychospiel anzunehmen, bedeutet, die Realität zu verlassen und in einer Scheinwirklichkeit negative Zuwendung zu geben und einzufordern. Daraus kann nichts Gutes entstehen.

 

Da ich aber gleichzeitig feststelle, dass die allermeisten Menschen, die mich umgeben, das destruktive Potenzial von Ratschlägen nicht erkennen können, will ich in den nächsten Wochen und Monaten in loser Folge mal die beliebtesten Ratschläge analysieren.

 

Der erste, den ich in den Fokus nehmen werde, ist: „Glaub‘ an dich.“

Da steckt sehr viel destruktives Potenzial drin.

Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Neo-Silver (Sonntag, 07 Juli 2019 15:41)

    Hallo Stiller.

    Diese negative Zuwendung wird oft in der Kinderpsychologie beschrieben. Dort hat sie allerdings, wenn permanent und ausschließlich angewendet schlimme Folgen für die Kinderseele.
    Ich kann mir vorstellen, dass dies auf Erwachsene ebenso negative psychische und physische Folgen hat, finde dazu aber nur wenig Literatur.
    Logisch nachvollziehen kann ich ein erhöhtes Stresslevel durch den Ärger und den Frust, welche sich die Menschen dadurch, nicht zuletzt selbstverschuldet, zumuten.

    Ein Kleinkind benötigt Zuwendung zum direkten überleben.
    Ein Erwachsener denkt das er die Zuwendung zum direkten überleben benötigt?

    Hier stecke ich gedanklich fest.
    Ich kann es mir für ein Kind logisch herleiten, warum es dies tut. Zumindest bis zu einem gewissen Alter.
    Was ist aber der kleinste bestehende Nenner, weshalb die meisten Menschen dieses "Grundbedürfnis" weiterhin haben?

    Ich glaube du hast es einmal als einen Ersatz beschrieben. Vielleicht habe ich es auch nur so interpretiert.
    Ein Ersatz für eine innerliche Leere in irgendeinem Bereich?

    Und diese Leere kann für die Menschen dann so Existenzbedrohend sein, dass sie teilweise jegliche Zuwendung akzeptieren, egal wie und woher sie kommt?
    Das klingt insgesamt nicht sehr gesund.

    Ich bin mit Sicherheit nicht frei von solchen "Leeren", ich denke Niemand ist es so wirklich. Allein die Kindheit wird viele davon auf irgendeine Weise erschaffen haben.
    Also muss das Problem auch sein, dass die Menschen sich dieser Leeren gar nicht bewusst werden wollen oder sie nicht erkennen können.

    Nun sind dies teilweise rethorische Fragen, welche ich danach selber zu beantworten versuche.
    Eventuell kannst du insgesamt auf meinen Gedankengang eingehen oder eine spezifische Literatur dazu empfehlen.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 07 Juli 2019 16:42)

    "Ein Erwachsener denkt das er die Zuwendung zum direkten überleben benötigt?"
    Alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie, die ich kenne, weisen in dieselbe Richtung:
    Auch ein erwachsener Mensch braucht Zuwendung zum Überleben.
    Fehlt diese Zuwendung, nimmt er psychisch schwersten Schaden und stirbt deutlich vor der Zeit.

    "Und diese Leere kann für die Menschen dann so Existenzbedrohend sein, dass sie teilweise jegliche Zuwendung akzeptieren, egal wie und woher sie kommt?"
    Exakt.
    Ohne Zuwendung müssen wir sterben.
    Negative Zuwendung ist besser als gar keine.
    Die allermeisten Erwachsenen, die ich kenne, sind so "gepolt", dass sie reflexhaft nach negativer Zuwengung verlangen, wenn sie Zuwendung brauchen. Das ist aber nicht angeboren, sondern wird im Verlauf des Lebens gelernt. (Man kann sich als Erwachsener aber auch entscheiden, diesen Prozess wieder rückgängig zu machen. Das ist zwar ausgesprochen schmerzhaft und langwierig, aber das geht. Und ich finde, dass sich das lohnt).

    "Also muss das Problem auch sein, dass die Menschen sich dieser Leeren gar nicht bewusst werden wollen oder sie nicht erkennen können."
    Korrekt.

    "Eventuell kannst du insgesamt auf meinen Gedankengang eingehen oder eine spezifische Literatur dazu empfehlen."
    Literatur dazu?
    Die Fachzeitschriften der wissenschaftlichen Psychologie sind voll davon.
    Populärwissenschaftliche Literatur dazu habe ich nicht.
    In den Büchern zur Transaktionsanalyse, die von Experten geschrieben wurden, finden sich sehr viele Hinweise darauf, wie Erwachsene es anstellen, negative Zuwendung von anderen zu erpressen.
    Ich empfehle da immer:
    Fanita English: "Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen."
    Ein AS informierte mich jetzt, dass in diesem Buch hässliche Dinge über Autisten stehen. Das ist möglich. Ich nehme aus jedem Buch das, was die Realität gut beschreibt. Das Weltanschauliche lasse ich immer weg.
    Eine guten Überblick geben auch: Stewart, I. & Joines, V.: "Die Transaktionsanalyse"

    Und wenn du es ganz, ganz bitter und brutal willst, dann schau dir die Experimente an, die Harlowe mit Affen gemacht hat. Ethisch absolut verwerflich, aber so und noch viel, viel schlimmer gehen Menschen zu Milliarden mit ihren Kindern um - und diese Kinder werden (genau wie bei Harlowe) irgendwann selber Eltern und geben ihr erlerntes Konzept der Zuwendung an ihre Kinder weiter.

    Bei Harlowe geht es sehr viel um positive und negative Zuwendung.
    Zu Harlowes Experimenten gibt es auch umfangreiche wissenschaftliche Literatur.




  • #3

    Neo-Silver (Sonntag, 07 Juli 2019 17:04)

    Das notiere ich mir. Eventuell finde ich diese Bücher in der Bibliothek.

    Ich habe noch ein generellese Anliegen.
    Oft schreibe ich hier meine Meinung und frage dich dazu Dinge. Du antwortest und erklärst. Ich nehme an, verstehe - oder eben auch manchmal nicht -, frage im Zweifelsfalls erneut nach oder bin nicht deiner Meinung.

    Dennoch bin ich für jegliche Antwort dankbar, da sie mich in meinem Wissen voranbringt.

    Nun ist es für mich schwierig zu entscheiden, ob ich dir diese Dankbarkeit jedes mal mitteilen soll.
    Wenn ich dankbar bin, habe ich auch den Drang es mitzuteilen.
    Nur muss ich auch dich mit einbeziehen, da du evtl. garkeine Dankbarkeit möchtest und ein dauerndes "Danke" unter deinen Kommentaren oder Berichten auch als störend empfinden könntest.

    Ich habe daher überlegt dir hier in diesem Bericht einmal grundsätzlich Danke zu schreiben.
    Deine bisherigen Antworten und Berichte haben mir geholfen die Welt und auch Teile von mir besser zu verstehen bzw. bei einigen persönlichen Inneren Angelegenheiten auch einmal genauer "hinzuschauen / hinzuhören".

    Also auf den Punkt gebracht: "Danke für die vielen Berichte und Antworten auf meine Kommentare.".

  • #4

    Stiller (Sonntag, 07 Juli 2019 18:20)

    Betrifft: Danbarkeit

    Mach' das so, wie es gut für dich ist.
    Bedankst du dich, dann ist das ok.
    Bedankst du dich nicht, dann ist das genauso ok.