Das Neurotypische Syndrom 16 – Die Helden des Unkonkreten

Das Neurotypische Syndrom wird zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnet. Zu den großen Schwächen, die mit diesem Syndrom einhergehen und die sich schlussendlich zu einer Behinderung aufsummieren, gehört auch diese:

 

NTs können in aller Regel nicht klar und präzise sagen, was sie eigentlich wollen.

 

Ich will das anhand einiger Beispiele aus meinem Beobachtungsfundus erläutern:

 

1

Ich hab‘ als Student viele Jahre als Landschaftsgärtner gearbeitet. Der Chef neigte dazu, mich mit allem Gerät am Rande eines großen Gartens abzusetzen. Er ließ dann seinen Blick kühn und herrschaftlich über das gesamte Anwesen schweifen und gab mir dann diesen Auftrag:

„Mach das mal alles nett, hier.“

Dann setzte er sich in seinen kleinen Lastwagen und fuhr weg – zu einem anderen Garten, wo er und die Jungs es sicher auch alles „nett“ machen würden.

 

Und was genau bitteschön sollte ich jetzt machen?

 

2

Zwischen der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin und mir kommen oft Dialoge wie dieser zustande:

Frau: „Ich finde, wir machen gar nichts mehr gemeinsam.“

Stiller: „Nun, im Moment reden wir immerhin gemeinsam.“

Frau: „Das meine ich nicht.“

Stiller: „Was meinst du dann?“

Frau: „Wir sollten mal wieder was zusammen machen.“

Stiller: „Machen?“

Frau: „Ja, machen! Wir machen gar nichts mehr gemeinsam zusammen.“

Gesprächspause. Beide schweigen.

Stiller: „Was würdest du denn gerne „machen“ … mit mir?“

Frau: „Ja, ich weiß auch nicht.“

 

Aha.

 

3

Ich höre einer Unterhaltung in einem Restaurant zu

Kellner: „Was darf ich Ihnen den schönes bringen?“

Gast: „Ja, ich weiß nicht? Was haben Sie denn heute an Empfehlungen?“

Kellner [rattert die Empfehlungen des Tages runter]

Gast: „Nein, das ist nichts für mich. [Erklärt ausschweifend, warum das so ist].“

Kellner: „Dann haben wir noch die Angebote aus der Speisekarte.“

Gast: „Nein, damit kann ich mich irgendwie nicht anfreunden heute“ (Blättert nochmal durch die Karte).

Kellner (wartet schweigend)

Gast (Klappt die Karte zu): „Haben Sie nicht was Nettes?“

 

4

Ich bekomme am Arbeitsplatz mit, wie ein Chef mit seinem Mitarbeiter spricht:

Chef: „Ihre Einstellung gefällt mir nicht. Darüber müssen wir mal reden.“

Mitarbeiter: „Was ist mit meiner Einstellung?“

Chef: „Ja, ich hab den Eindruck, Sie identifizieren sich gar nicht mit der Sache. Sie zeigen keinerlei Begeisterung.“

Mitarbeiter: „Gibt es an meiner Arbeit was auszusetzen? Haben Kunden sich beschwert?“

Chef: „Nein, das nicht, aber Ihre Einstellung …“

Mitarbeiter: „Aber Ihnen ist schon klar, dass ich hier dafür bezahlt werde, dass ich hier meine Arbeit tue?“

Chef (beschwichtigend): „Ja, an der Arbeit gibt es ja auch gar nichts auszusetzen.“

Mitarbeiter: „Worüber reden wir dann?“

Chef: „Das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit zu erklären – Sie sind nicht mit Begeisterung bei der Sache. Da fehlt der Schwung.“ (Macht eine energische Körperbewegung).

Mitarbeiter: „Haben sich Kollegen beschwert oder andere Abteilungen?“

Chef: „Nein, gar nicht.“

Mitarbeiter: „Verstehe ich das also richtig – der einzige, der ein Problem mit meiner Arbeit hat, sind Sie?“

Chef (windet sich): „Nein, nicht „Problem“, das wäre ein zu hartes Wort. Es ist nicht ein Pro-blem. Es ist mehr ein Wunsch, den ich an Sie habe.“

Mitarbeiter: „Ich soll begeistert arbeiten.“

Chef: „Richtig! Genau das ist es. Gut, dass Sie das erkannt haben.“ (Geht weg).

 

5

Die Klassenlehrerin hat mich eingeladen, um mit mir über meine AS-Tochter zu sprechen. Dabei kommt es zu diesem Dialog:

Lehrerin: „Die [Name] ist immer so still. Die beteiligt sich gar nicht am Unterricht.

Stiller: Ja, das ist ihr Naturell. Der Fachbegriff dafür ist Introversion.“

Lehrerin: „Aber sie könnte sich doch zumindest ein bisschen mehr einbringen.“

Stiller: „Ja, was soll sie denn ganz konkret tun, ihrer Meinung nach?“

Lehrerin: „Ja, sich am Unterricht beteiligen – Interesse zeigen.“

Stiller: „Nochmal – was soll ich [Name] sagen, wenn ich nach Hause komme? Was soll sie ganz konkret tun?“

Lehrerin: „Zeigen, dass sie am Unterricht teilnimmt.“

Stiller: „Sie bekommt immer alles mit.“

Lehrerin (windet sich): „Ja, das weiß ich ja. Aber sie könnte doch ein bisschen mehr aus sich herausgehen. (Ratlos): Interesse zeigen, eben.“

Stiller: „Nochmal: Was soll sie (jedes Wort betonend): ganz konkret tun?“

Lehrerin: „Sich mehr einbringen im Unterricht. Schauen Sie, die sitzt immer nur die ganze Zeit so da (macht das Verhalten meiner Tochter pantomimisch nach).“

Stiller: „Ich weiß, wie sie normalerweise sitzt, wenn sie was aufnimmt. Was soll sie (jedes Wort betonend): ganz konkret tun?“

Lehrerin: „Sich am Unterricht beteiligen. Sich melden.“

Stiller: „Wie oft pro Stunde?“

Lehrerin: „Dreimal.“

Stiller: „Das ist es also, was sie von ihr wollen? Sie soll sich dreimal pro Stunde melden?“

Lehrerin: „Ja.“

Stiller: „Gut. Das werde ich weiter geben.“

 

 

Ich habe sehr viele Beobachtungen zu dieser Thematik zusammengetragen und dabei festgestellt, dass NTs beinahe nie wissen, was sie denn nun ganz konkret wollen, wenn sie etwas wollen. Sie spüren ein diffuses Unbehagen und haben offenbar nur selten die Fähigkeit, dem nachzugehen, das zu präzisieren und zu verbalisieren.

 

Ich kann noch nicht sagen, woran das liegt. Ich habe mir viele Gedanken dazu gemacht und arbeite an Hypothesen. Aber es wird vermutlich noch Jahre dauern, bis ich schlüssig nachweisen kann, was die Ursachen dieses merkwürdigen Unvermögens sind.

 

Und zum Schluss:

Ich kann mich erinnern, dass ich mal auf einem großen Kongress zum Thema Autismus sprach. Bei diesem Kongress ging es darum, wie die Autisten besser in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Meine Vorredner sprachen sehr gelehrt und belesen über all die „Störungen“, die Autismus so mit sich bringt. Ich heizte den Leuten ordentlich ein, indem ich mich genauso gelehrt und belesen über das „Neurotypische Syndrom“ ausließ.

Im Anschluss daran fand ich mich auf einmal in einer Podiumsdiskussion wieder. Fünf Neurotypische – Experten für Autismus, Arbeitgebervertreter, Leute von irgendwelchen Sozialverbänden und dazwischen ich: Der Autist vom Dienst. 

 

Ja, und dann wurde von den Arbeitgebern auf dem Podium viel geklagt, dass die Autisten sich so schlecht in den Betrieb integrieren ließen, weil sie einfach nicht machten, was sie sollten. Die Experten für Autismus und die Leute von den Sozialverbänden zuckten mit den Schultern: Das wär‘ eben bei Autisten so. Die wären eben gestört, damit müsse man leben.

 

Dann wurde mir das Mikrofon gegeben. Ich wurde gefragt, warum denn die Autisten in den Betrieben so selten tun würden, was sie sollten. Und ich sagte in das Mikrofon:

„Ja, die Neurotypischen haben eben sehr große Schwierigkeiten, uns zu sagen, was sie eigentlich von uns wollen.“

 

Es brandete großer und anhaltender Applaus auf.

Und in diesem Moment wusste ich ganz genau, wo im Publikum die Autisten saßen.

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Kommentare: 3
  • #1

    Richter (Donnerstag, 27 Juni 2019 12:24)

    Moin!

    Ich glaube auch, dass die allermeisten NTs nicht genau wissen, was sie eigentlich wollen. Ich kann hier nur für mich sprechen, aber in meinem Kopf ist ständig Chaos. Meine Vorstellungen und Wünsche ändern sich im Minutentakt und ich denke, es geht vielen NTs so. Deshalb suchen wir uns eine andere Person und quasseln sie voll, um herauszufinden, was wir eigentlich wollen. Diese Gespräche können mindestens 3 verschienene Ergebnisse haben:

    1. Die andere Person hört uns nicht zu oder hat kein Interesse. Aber dadurch, dass wir gezwungen sind, unsere diffusen Gedanken und Wünsche halbwegs zu sortieren, damit ein einigermaßen verständlicher Satz dabei herauskommt, kommen wir einer Entscheidung meistens näher.

    2. Die andere Person äußert ihre Ansichten zu dem Thema. Empfinden wir dabei Zustimmung oder Ablehnung, hilft das der Entscheidungsfindung meistens auch.

    3. Die andere Person hat nicht die geringste Ahnung, was wir von ihr wollen.

    Zugegeben, das klingt nach einem sehr ineffizienten Verfahren. Aber weil wir NTs sehr beeinflussbar sind und uns oft irren, ist die Hilfe einer anderen Person manchmal von Vorteil.

    Ich verfolge Ihren Blog schon seit einiger Zeit und glaube, dass Sie in den meisten Annahmen zum neurotypischen Syndrom recht haben. Nur Eins passt zumindest bei mir nicht: Ich ballere mich gerne mit Lärm zu, akustisch und optisch, laute Musik, Radio, Fernseher, schreiende Kinder, bunte Lichter - das tue ich aber nicht weil meine Sinne abgestumpft sind. Bei mir und ich denke auch in bei manchen anderen dient das eher dazu, die vielen Gedanken in meinem Kopf zu unterdrücken. Ich kann mich nicht einfach so konzentrieren wenn es ruhig ist, ich brauche etwas Ablenkung, um einen Teil meines Kopfes zu beschäftigen damit der Rest in Ruhe arbeiten kann. Daher mache ich auch mehrere Dinge gleichzeitig, damit sich nicht ein Teil von mir langweilt und auf dumme Gedanken kommt.

    Achja: Ich glaube, dass die Frau, mit der Sie de jure verheiratet sind, mit Ihnen so etwas wie Kino, Essengehen, Ausflug wollte. Sie konnte es aber nicht direkt sagen, da sie Ablehnung befürchtet hat. Deshalb hat sie gehofft, dass Sie es ihr sagen. Das ist ein weiteres Problem, was wir NTs haben: wir können anderen oft nicht direkt sagen, was wir von ihnen wollen, weil wir Angst haben, die Zielperson zu beleidigen oder von ihr zurückgewiesen zu werden. Daher machen wir oft nur Andeutungen oder stellen offene Fragen in der Hoffnung, die Zielperson "errät", was wir von ihr wollen. Manchmal klappt das sogar.

    Ich hoffe, mein Beitrag kann Ihnen bei der Forschung helfen und freue mich auf Ihre weiteren Forschungsberichte.

  • #2

    Stiller (Samstag, 29 Juni 2019 00:01)

    Tach!

    "Meine Vorstellungen und Wünsche ändern sich im Minutentakt und ich denke, es geht vielen NTs so. Deshalb suchen wir uns eine andere Person und quasseln sie voll, um herauszufinden, was wir eigentlich wollen."
    Das ist eine ausgeprägt extravertierte Weise des Sprechens. Extravertierte Menschen ordnen ihre Gedanken, indem sie sie aussprechen, introvertierte Menschen ordnen sie, indem sie nachdenken.

    Ein Exchef von mir sagte mir über sich:
    "Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?"

    "Zugegeben, das klingt nach einem sehr ineffizienten Verfahren."
    Das ist in der Tat sehr ineffizient, da aber extravertierte Menschen den Mangel an Effizienz durch Wortreichtum kompensieren können, gleicht sich das einigermaßen aus. Es wird nur ziemlich laut und ziemlich sozial beim Denken.
    Es können hunderte Introvertierte in einem Raum sitzen und zeitgleich nachdenken.
    Wenn auch nur ein Extravertierter nachdenkt, ist für alle Introvertierten in Hörweite das Nachdenken gestrichen.

    "Ich ballere mich gerne mit Lärm zu, akustisch und optisch, laute Musik, Radio, Fernseher, schreiende Kinder, bunte Lichter - das tue ich aber nicht weil meine Sinne abgestumpft sind."
    Das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Wenn Sie mit sich umgehen, wie hier beschrieben, dann müssen Ihre Sinne abgestumpft sein, sonst überleben Sie das nicht.

    "Bei mir und ich denke auch in bei manchen anderen dient das eher dazu, die vielen Gedanken in meinem Kopf zu unterdrücken. Ich kann mich nicht einfach so konzentrieren wenn es ruhig ist, ich brauche etwas Ablenkung, um einen Teil meines Kopfes zu beschäftigen damit der Rest in Ruhe arbeiten kann. Daher mache ich auch mehrere Dinge gleichzeitig, damit sich nicht ein Teil von mir langweilt und auf dumme Gedanken kommt."
    Das kann ich nachvollziehen. Das ist ein psychischer Mechanismus, der in der Arbeitspsychologie gut bekannt und beschrieben ist.

    "Das ist ein weiteres Problem, was wir NTs haben: wir können anderen oft nicht direkt sagen, was wir von ihnen wollen, weil wir Angst haben, die Zielperson zu beleidigen oder von ihr zurückgewiesen zu werden."
    Danke für diesen Hinweis. Das ist für mich im Grundsatz nachvollziehbar.
    Aber wie verhält es sich damit, dass ein neurotypischer Chef einem autistischen Azubi nicht sagen kann, was er zu tun hat?
    Fürchtet der Chef die emotionale/soziale Ablehnung durch den Azubi?





  • #3

    Richter (Dienstag, 02 Juli 2019 07:01)

    Stimmt, beim Chef hat das andere Gründe. Ich würde sagen er macht es sich einfach. Er:
    1. muss im Vorfeld nicht überlegen, was zu tun ist und wie. Er erspart es sich auch, es dem Azubi zu vermitteln.
    2. hat eine Bewertungsgrundlage für die Arbeit des Azubis. Er sieht nicht nur, wie er arbeitet, sondern auch wie er plant.
    3. kann sich überraschen lassen, ist gespannt auf das Ergebnis. Vielleicht fällt dem Azubi etwas Besonderes ein oder ihm passiert eine witzige Dummheit.
    4. überträgt am Ende die gesamte Schuld auf den Azubi, solle etwas nicht passen.
    5. schützt sich damit, die Kreativität des Schülers nicht beschneiden zu wollen, sollte ihn jemand darauf ansprechen, dass dieses Verhalten unfair sei.

    Ich habe leider keine Ahnung von Psychologie und bin auch nicht sonderlich einfühlsam. Es tut mir leid, falls ich hier das Offensichtliche breittrete.