Wie ein Leuchtturm 1 – Auf einen Blick

Ein Leuchtturm dient der Orientierung – hier soll es jedoch um was anderes gehen.

 

 

Mit einem NT meines Vertrauens habe ich mehrere längere Gespräche darüber geführt, warum NTs der Blickkontakt so wichtig ist, und warum sie anderen so gerne und so oft ins Gesicht schauen. Natürlich sind die Ergebnisse dieser Gespräche nicht wissenschaftlich fundiert und können nur Hypothesen bilden. Natürlich kann ich nicht sagen, in welchen Maße sich die Ergebnisse meiner Gespräche mit diesem NT verallgemeinern lassen. Aber ich will hier einfach mal von mir schreiben, und jeder AS und jeder NT kann dann schauen, in welchem Maße er sich darin wiederfindet.

 

Der NT meines Vertrauens sagte mir immer wieder:

„Wir NTs müssen den anderen so oft und so lange ins Gesicht schauen, damit wir sehen, was in ihm vorgeht.“

 

Bei mir ist das völlig anders. Ich streife mit meinem Blick über ein Gesicht, so wie ein Leuchtturm mit seinem Leuchtkegel über die Landschaft streift. Ich schaue mir ein Gesicht an, so wie ein Leuchtturm ein Gesicht anschauen würde, und ich weiß alles, was ich für diesen Moment wissen muss und wissen kann.

Dennoch: Beim Augenpartientest erziele ich höchstens dürftige Ergebnisse.

 

Einschub

Es gibt einen ziemlich bekannt gewordenen Test, bei dem man Fotos von Augenpartien vorgelegt bekommt. Aus diesen Augenpartien soll man dann Emotionen herauslesen. Dieser Test wird häufig eingesetzt, wenn entschieden werden soll, ob jemand AS ist oder nicht. Mit viel Übung und Rumgerate erreiche ich bei diesem Test mittlerweile unauffällige Ergebnisse. Aber aus Augenpartien Emotionen herauszulesen scheint nun wirklich nicht meine Stärke zu sein.

Einschub Ende

 

Was sehe ich also in Gesichtern?

 

Wenn ich wie ein Leuchtturm ein Gesicht anschaue, dann weiß ich sofort, wen ich da vor mir habe. Ich muss nicht ein zweites Mal schauen. Ich habe auf diese Weise schon viele lebenswichtige Entscheidungen getroffen. Ich habe noch nie daneben gelegen. Meistens kann ich nicht verbalisieren, was ich da gesehen habe. Aber meine Kleinen wissen Bescheid, und das reicht mir.

 

Vielleicht kann ich an einem anderen Beispiel erläutern, was da vorgeht:

Als ich vor über 30 Jahren mit der Frau, mit der ich heute de jure verheiratet bin, zusammenzog, war sie schon nach kurzer Zeit ziemlich entsetzt:

Beinahe immer, wenn sie in mein Zimmer kam, konnte ich schon an der Art, wie sie die Klinke herunterdrückte, genau sagen, wie sie gerade drauf war. Meistens konnte ich auch schon ziemlich genau sagen, was sie von mir wollte.

Ihr war das ziemlich unangenehm. Sie fühlte sich gläsern, sie fühlte sich ertappt. Sie kam zu mir ins Zimmer, und ich sagte ihr:

„Ah, du hast mal wieder mit deinem Chef gezankt, und jetzt willst du mir davon erzählen.“

„Woher weißt du das denn schon wieder?!“

„Die Art, wie du zur Tür hereingekommen bist.

 

Manchmal lag ich im Detail auch daneben. Dann hatte sie nicht mit ihrem Chef gezankt, sondern mit ihrem Vater. Aber in der Grundtendenz war meine Intuition immer richtig. Da meine damalige Freundin es nicht mochte, derart erkannt zu werden, hörte ich auf, ihr davon zu erzählen. Aber wenn ich wie ein Leuchtturm über ein Gesicht streife, ist es ganz ähnlich.

 

Mittlerweile bin ich auch dreist und selbstbewusst genug, um den selbsternannten Emotionsexperten zum Augenpartientest dieses sagen:

„Nein, das was ihr da in den Gesichtern zu sehen glaubt, das ist die Oberfläche. In Wirklichkeit empfindet dieser Mensch etwas ganz anderes.“

 

Oft liege ich da mit dem Mainstream der NTs ziemlich über Kreuz. Zum Beispiel: Immer wieder himmeln NTs irgendeinen Menschen als „wunderbar“ an. Er ist beliebt, er ist begehrt, so ziemlich jeder sucht seine Nähe, man erzählt sich Wunderdinge über ihn. Ich schaue diesen Menschen für den Bruchteil einer Sekunde an und sage:

„Achtung, der ist extrem gefährlich. In ihm ist so viel Gewalt, Einsamkeit und Verzweiflung, der ist eine tickende Zeitbombe. Mich würde nicht wundern, wenn er als Hobby die Tierquälerei hat.“

Das stößt dann meistens auf empörten Widerspruch:

„Aber das kannst du doch nicht einfach so behaupten, Stiller! Das ist üble Nachrede! Jeder mag ihn! Jeder! Und du siehst ihn heute zum ersten Mal und sagst dann sowas. Das kannst du doch nicht tun! Du kennst ihn doch gar nicht! Lern ihn doch erst mal kennen, bevor du dir ein Urteil über ihn bildest!“

„Wie du siehst, kann ich so über ihn sprechen. Und näher kennenlernen brauche ich ihn auch nicht. Selbst wenn ich ihn heute zum ersten Mal sehe, weiß ich doch genug über ihn, um das mit Sicherheit über ihn sagen zu können.“

„Also weißt du, Stiller – manchmal bist du einfach un-mög-lich!“

„Damit kann ich leben. Aber denk‘ an meine Worte: Du bist gewarnt.“

 

Als praktisches Beispiel kann ich hier den unsäglichen Paulo Coelho anführen.

Der ist unvorsichtig genug, Fotos von seinem Gesicht auf die Umschläge seiner Bücher drucken zu lassen.

Vor vielen Jahren begannen Kollegen damit, mir Bücher von ihm zu schenken. Sie waren ganz hin und weg. Ich müsste das unbedingt lesen. Ich hatte keine Ahnung, wer das war. Paulo Coelho? Nie gehört. Ich drehte das Buch um und da starrte mich dieses völlig zerstörte Gesicht an.

„Ach du liebe Güte!“ dachte ich „Giftschrankliteratur! Bloß weg damit!“

Ich hab‘ das Buch dann umgehend ungelesen weitergeschenkt.

Und dann bekam ich noch ein Buch von ihm und noch eins und noch eins und noch eins. Das schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. Ich dachte nur:

„Ja, wenn ihr euch unbedingt von einem Scharlatan reinlegen lassen wollt, dann macht das. Aber was habe ich damit zu tun?“

Ich hab‘ die Bücher alle weitergeschenkt.

 

Irgendwann hab‘ ich mich dann mal nötigen lassen, eins zu lesen. Irgendein Handbuch eines Kriegers des Lichts. Und nein, es ging nicht um den Vorstand von Osram und seine neue Strategie. Es war eine Sammlung weiser Sprüche. Ich las das halt: – Hanebüchener Unsinn. Völliger Quatsch. Vorgestanzte Seelentröster für Verlierer mit dem einzigen Zweck, das klare Denken einzunebeln und durch salbungsvolle Worte einen rauschartigen Zustand zu erzeugen. Ideal für emotionale Analphabeten und alle, die einer werden wollen.

 

Irgendwann kam mir meine ältere Tochter mit dem Buch irgendeines Menschen, der sich „Osho“ nannte. Kannte ich nicht. Ich schaute mir das Foto auf dem Buch an.

„Naja“, dachte ich. „Wenn du dich gerne von einem Scharlatan reinlegen lässt ...“

Aber ich sagte nichts. Jeder muss seinen Weg selbst finden.

 

Ich streife mit meinem Blick über ein Gesicht wie ein Leuchtturm. Dann ist dieser Mensch für einen kurzen Moment in mir drin, und ich bin er. Mehr brauche ich nicht, um zu wissen, was das für ein Mensch ist.

 

Ich brauche im Gespräch also keinen Blickkontakt und kein Ins-Gesicht-Gestarre. Im Gegenteil, das tut mir ziemlich weh. Dennoch kannst du sicher sein, dass ich in den Millisekunden, in denen mein Blick dich streifte, mehr von dir gesehen habe, als andere, deren Blick dich minutenlang mustert.

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Kommentare: 2
  • #1

    Kikkulade (Dienstag, 04 Juni 2019 22:14)

    'Dennoch kannst du sicher sein, dass ich in den Millisekunden, in denen mein Blick dich streifte, mehr von dir gesehen habe, als andere, deren Blick dich minutenlang mustert.'

    Ergänzung: ...und (möglicherweise) mehr, als ich selbst über mich derzeit weiß und sehen kann.

    So habe ich es bisher mit drei mir bekannten AS mit dieser Fähigkeit erlebt.
    Dafür bin ich diesen dreien sehr, sehr dankbar!!

  • #2

    Die von hinterm Mond. (Dienstag, 20 August 2019 02:13)

    Bei diesem Augenpartientest dachte ich mir nur:
    Was soll das? Ich hab doch sonst auch nicht ausschließlich mit Leuten in 'ner Burka zu tun.

    (Ok, ich wusste es damals nicht besser. Nikab, nicht Burka.)