· 

Der Hund

Im letzten Dezember stand in meinem Leben mal wieder eine entscheidende Weichenstellung an. (Ich werde ein andermal ausführlich darüber berichten). Um mich vorzubereiten, suchte ich an einem Vormittag die westdeutsche Großstadt auf, in der ich groß geworden bin. Mich begleitete eine Weggefährtin. Wir waren auf Spurensuche.

 

Gemeinsam gingen wir in die sehr ausgedehnte parkähnliche Anlage, in der ich als kleiner Junge oft gewesen war. Ich hatte jüngst mal wieder von ihr geträumt und wollte einige Dinge in der wachen Realität gegenchecken. Es war ziemlich kalt und ein bisschen diesig. Außer uns war beinahe niemand da. Nur ein paar Spaziergänger mit ihren Hunden. 

 

Als wir unten am Bach standen, kam ein mittelgroßer Hund aufgeregt bellend und schwanzwedelnd durch die Büsche auf uns zu. Er gehörte zu einem älteren Ehepaar, das weiter oben auf einem Parallelweg unterwegs war. Das Ehepaar rief nach dem Hund. Das kümmerte ihn nicht. Er sauste aufgeregt um meine Weggefährtin herum. Er beschnüffelte sie ausgiebig und nahm Kontakt mit ihr auf. Ich stand schweigend daneben und schaute mir das an. Meine Weggefährtin sagte ein paar freundliche Worte zu dem Hund und bückte sich nach ihm. Der Hund beschloss offenbar, dass sie seine neue Freundin war. Er beschnupperte ausgiebig ihre ausgestreckte Hand, lief noch ein paar Mal um sie herum und beschloss dann, auf die Rufe zu hören, die ihn zurück zu Herrchen und Frauchen beorderten. Durch die Büsche sauste er wieder nach oben.

 

Wir gingen weiter am Bach entlang, das Tal hinauf. Die meisten dieser Bäume kannte ich noch aus meiner frühen Kindheit. Ich schaute sie mir an. Ich erinnerte mich. Viele Bilder stiegen in mir auf. Dann war da wieder dieses Gebelle. Der Hund kam schwanzwedelnd durch die Büsche auf uns zu gerannt. Ich blieb schweigend stehen und schaute mir das an. Diesmal galt der Besuch mir. Der Hund lief um mich herum und beschnupperte mich. Schweigend streckte ich ihm die Hand hin. Die beschnupperte er auch. Ich hatte den Eindruck, dass er mit meiner Weggefährtin mehr anfangen konnte als mit mir. (Großer, tiefschweigender Mann, ganz in Schwarz gekleidet mit einer sehr dunklen Sonnenbrille). Aber offensichtlich war er auch von mir hinreichend angetan und schloss mich in sein Hundeherz. Er lief noch ein paar Mal schnuppernd um mich herum. Dann rannte er wieder nach oben. Noch ein paar Mal aufgeregtes Gebelle und dann war er weg. Wir gingen weiter am Bach entlang, das Tal hinauf.

 

Wir stiegen vom Bach weg den ausgedehnten Hang hinauf und kamen zu den großen Wiesen zwischen den hohen Buchen. Hier hatten meine Geschwister und ich viel gespielt, als wir kleine Kinder waren. Mit meinem leiblichen Vater waren wir oft an Sommerabenden hier gewesen. Alles mögliche hatten wir hier gespielt. Die Wiesen waren für uns gigantische, wilde Ebenen gewesen, groß wie die Prärie. Die Buchen drumrum waren wahre Giganten gewesen – Baumriesen, die buchstäblich bis in den Himmel aufragten. Und jedes kleine Dickicht war für uns damals ein wahrer Dschungel – voller Geheimnisse und Abenteuer. … Das waren manchmal sehr schöne Stunden gewesen.

 

Meine Weggefährtin sprach mit mir über diese Zeit. Und ich erzählte ihr.

Ich erzählte ihr auch dieses:

„Wenn du als Eltern ein Terrorregime gegen deine Kinder führst und alles daran setzt, dass die dauernde Todesangst ihr Leben beherrscht, dann ist es irgendwann nicht mehr nötig, dass du sie Tag und Nacht ängstigst. Es reicht, wenn sie wissen, dass du sie jederzeit wieder zurück in die absolute Todesangst stoßen kannst, in Angst, Not und Terror. Dann kannst du deine Kinder auch mal an der langen Leine laufen lassen und ihnen ein paar schöne Stunden gönnen. Umso wirksamer wird dann dein Terrorregime sein, wenn sie wieder zurückkehren. Die Terrorherrscher dieser Welt haben das alle so gehandhabt – Stalin, Pol Pot, Himmler, Mao. All diese Jahrhundertverbrecher haben das gewusst.“

 

Ich hatte den Eindruck, dass meine Weggefährtin verstand. Sie fragte noch einiges und ich antwortete noch einiges. Wir sprachen mit leisen, ruhigen Stimmen. Dann standen wir da auf einem breiten Weg zwischen den Wiesen. Still und schweigend. Es wurde allmählich etwas wärmer. Sie guckte in die eine Richtung, ich guckte in eine andere. Lange Zeit sagte keiner von uns was. Bilder stiegen in mir auf und zogen durch mich hindurch. Viele Bilder. Bilder von dem, was gewesen war, als ich ein kleiner Junge war. Bilder von dem, was später kam. Bilder, die ich nicht zuordnen konnte. Ich sah sie an und ließ sie ziehen.

 

„Hattest du zu dieser Zeit ein oranges Kleidungsstück?“ wollte meine Weggefährtin wissen.

Ich schaute zu ihr:

„Ich weiß, was du meinst“; antwortete ich ihr. „Ich hab‘ diese Farbe auch grade gesehen. Ich kann den Stoff fühlen. Aber ich weiß nicht, ob es ein Kleidungsstück war.“

Ich durchforstete meine Datenbänke in mir. Dieses Orange kam mir sehr vertraut vor. Der Stoff auch. Aber ich fand das dazu passende Kleidungsstück nicht in meinen Erinnerungen. Bilder stiegen in mir auf. Viele Bilder. Ich schaute sie mir an und ließ sie ziehen. Der Terror, die ewige Todesangst und das absolute Grauen von damals waren in mir. Wegen dieser Gefühle war ich gekommen. Ich wollte mir das alles nochmal ansehen und nochmal fühlen.

 

So standen wir wieder eine ganze Weile still und schweigend auf diesem breiten Weg zwischen den Wiesen. Sie guckte in die eine Richtung. Ich schaute in eine andere Richtung.

 

Von weiter unten sah ich das ältere Ehepaar langsam den Weg hochkommen. Sie waren noch über hundert Meter entfernt, als der Hund uns entdeckte. Aufgeregt und freudig schwanzwedelnd kam er mit viel Gebell den Weg hochgestürmt. Ich stand ziemlich auf der Mitte des Weges. Meine Begleiterin stand eher am Rand und vom Hund aus gesehen deutlich hinter mir.

 

Der Hund sauste heran. Als er noch etwa zwanzig Schritte von mir entfernt war, bremst er auf dem Weg jäh ab. Sein freudiges Gebell verstummte abrupt. Alle seine Nackenhaare sträubten sich. Voller Angst und Schrecken knurrte er mich an. Ich stand völlig unbeweglich und schaute mir das in tiefstem Schweigen an. In mir war kein einziges Wort. Ich verstand. Der Hund nicht. Er wollte an mir vorbei, aber er traute sich nicht. Er zog den Kopf ein. Seine Hinterläufe schienen etwas wegzuknicken. Er fühlte sich in seiner Existenz bedroht und wusste nicht, was es war. Ich wusste es. Die Haare des Hundes schienen sich in alle Richtungen gleichzeitig zu sträuben.

 

Er versuchte, in einem großen Bogen links um mich herum zu laufen. Aber das, was ihn bedrohte, fand er auch da. Er knurrte sich ängstlich seinen Weg rechts um mich herum. – Das selbe Ergebnis. Das Ehepaar kam allmählich näher und verstand die Welt nicht mehr. Ich stand unbeweglich und schweigend und verstand sehr genau. Neugierig versuchte ich, die Entfernungen abzuschätzen, die der Hund einhielt.

 

Das Ehepaar hatte jetzt den Hund erreicht und redete besorgt und vorwurfsvoll auf seinen völlig aufgelösten Liebling ein. Die Frau, nahm Kontakt zu uns auf:

„Ich verstehe das gar nicht! Sowas macht er sonst nie! Das hat er noch nie gemacht! Und vorhin war er doch so freundlich zu Ihnen …“

Ich sagte nichts. Es war kein einziges Wort in mir. Ich rührte mich nicht. Meine Begleiterin äußerte ein paar belanglose Worte des Verständnis‘. Das Ehepaar ging an uns vorbei und zog seinen knurrenden und zähnefletschenden Hund am Halsband mit sich. Er hielt so viel Abstand zu mir wie irgend möglich. Er ließ kein Auge von mir. Sein Fell war noch gesträubter als vorher. Das Ehepaar registrierte das alles mit einem Gefühl der tiefen Peinlichkeit: Weitere Worte der Entschuldigung und des tiefen Bedauerns. Weiteres tiefes Schweigen von mir. Weitere beruhigende, belanglose Worte meiner Begleiterin. Dann gingen sie weiter und entfernten sich. Wir waren wieder alleine auf dem Weg.

 

Ich stand da und wusste, was der Hund gesehen hatte: Ich war eine große Säule, aus der der Terror und das absolute Grauen herausströmten wie Wasser aus einem Brunnen. Der Terror und das absolute Grauen flossen an mir herunter und breiteten sich zu meinen Füßen in konzentrischen Kreisen um mich herum aus. Tatsächlich wie Wasser aus einem Brunnen. Nach dem Verhalten des Hundes zu schließen, umgab mich die Flut des Terrors und des absoluten Grauens in jede Richtung ungefähr acht Meter.

 

Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass Hunde sowas sehen können. Es tat mir leid, dass der Hund sich so gefürchtet hatte. Aber das war ich. Das war original ich. Ich als kleiner Junge. Das war meine Terror-Vergangenheit. Dieses absolute Grauen war in mir gewesen. Jeden, jeden, jeden Tag. Der Hund hatte etwas gesehen, was nie jemand hatte sehen wollen, als ich ein Kind war.

 

Willkommen, Hund, in meiner Welt.

Es tut mir leid, dass du dich so gefürchtet hast vor etwas, was du absolut nicht verstanden hast. Aber sehr wahrscheinlich ist es besser für dich, dass du nicht mehr verstehst und nicht mehr weißt als das, was du da gesehen hast. Es reicht, wenn ich das weiß und verstehe.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0