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Arroganz

Für Neurotypische, die mich nicht kennen, bin ich offenbar eine Figur zum Gruseln: Finster, merkwürdig, seltsam, unhöflich, gefährlich, eigen, verschlossen, unnahbar und was weiß ich. Aber vor allem bin ich für sie eines: Arrogant. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Rückmeldung im Laufe meines Lebens schon bekommen habe – ich habe aufgehört, das zu zählen. Und da gibt es ja noch die ganzen Arroganzderivate: Ich bin überheblich, ich halte mich für was Besseres, ich bin abgehoben, ich rede auch nicht mit jedem … Und so weiter.

 

Was ist da dran? Bin ich so schrecklich arrogant?

Die Antwort ist zweigeteilt:

a)   Was mich als Person betrifft: Ganz sicher nein. Arroganz wird im Allgemeinen so definiert, dass man sich für was Besseres hält und andere Menschen abwertet. Das ist kein Verhalten, zu dem ich neige.

b)    Was die Neurotypischen betrifft – die leiden halt am Neurotypischen Syndrom. Dazu gleich aber mehr.

 

Klamüsern wir das mal auseinander.

Wenn ich von Neurotypischen die Zuschreibung bekomme, arrogant zu sein, dann muss dem ja irgendwas vorausgegangen sein, irgendein Verhalten von mir. Meistens reagieren die Neurotypischen mit diesem Vierklang auf mein Verhalten:

1.    Wahrnehmen

2.    Vermuten

3.    Empfinden

4.    Zuschreiben/Urteilen

Für beinahe jeden Neurotypischen, den ich kenne, gehen diese vier Stufen ungetrennt ineinander über und sind eins. Das sind Automatismen die in ihnen ablaufen, die ihnen meistens nicht bewusst sind. Schauen wir uns das im Einzelnen an.

 

 

1

Wahrnehmen

Was nehmen die NTs von mir wahr, wenn sie mich als arrogant erleben? Ich liste mal ein paar typische Beispiele auf:

a)   Ich gehe an einem mir bekannten NT vorbei, der auf mich zukommt, ohne ihn zu grüßen oder ihm zu signalisieren, dass ich ihn wahrnehme.

b)    Ich öffne bei uns im Unternehmen die Tür zu einem Raum, in dem einige Neurotypische sitzen, schaue hinein, lasse meinen Blick über alles schweifen und schließe dann wieder die Tür, ohne ein Wort zu sagen.

c)    Ich öffne eine Tür und komme in einen Raum, in dem bereits einige Neurotypische sitzen. Ich erstarre in der geöffneten Tür und gehe wortlos wieder weg, wobei ich die Tür schließe.

d)    Ein Neurotypischer erzählt mir, wie er eine Person erlebt hat. Er schildert mir Verhalten und Gefühle dieser Person. Es entwickelt sich dabei dieser Dialog:

Stiller: „Das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Da stimmt etwas nicht.“

NT: „Das kannst du gar nicht wissen. Du warst nicht dabei.“

Stiller: „Es ist unlogisch. So kann das nicht gewesen sein. Da fehlt etwas Wichtiges.“

NT: „Aber ich war doch dabei und du nicht!“

Stiller: „Da hast du sicher recht.“

 

 

Wie das so meine Art ist, habe ich zahlreiche NTs interviewt, was ihre Vermutungen in solchen Situationen waren. Schauen wir uns die Ergebnisse mal an:

 

 

2

Vermuten

Was vermuten die NTs, was in mir abläuft?

a)   Der Stiller hat was gegen mich. Der mag mich nicht. Er lehnt mich als Person vollkommen ab. (Sonst hätte er mich ja gegrüßt).

b)   Der Stiller hat was gegen uns. Der mag uns nicht. Der lehnt uns als Personen vollkommen ab. (Sonst hätte er ja ein paar kurze, belanglose Worte mit uns gewechselt).

c)    Der Stiller hat was gegen uns. Der mag uns nicht. Der lehnt uns als Personen vollkommen ab. (Sonst hätte er doch mit uns gesprochen).

d)    Der Stiller ist völlig verrückt. Der glaubt, er könne hellsehen. Er lehnt mich als Person vollkommen ab, sonst würde er mir glauben, was ich ihm sage.

 

Ich nehme an, dass dem aufmerksamen Leser hier ein Muster aufgefallen ist. Ich habe es in einem anderen Blogtext schon mal beschrieben: Zu den Eigenheiten des Neurotypischen Syndroms gehört, dass die Betroffenen diese beiden Fähigkeiten trainieren und ausbauen, als gelte es, eine Meisterschaft zu gewinnen:

a)    Alles, was man wahrnimmt, auf sich selber beziehen

b)    Sich abgewertet und ungeliebt fühlen

Manchmal habe ich den Eindruck, dass kein AS auf diesen beiden Feldern mit ihnen konkurrieren kann.

 

Kommen wir zu den Empfindungen. Was fühlten die NTs, von denen ich Rückmeldung bekam, in den entsprechenden Situationen?

 

 

3

Empfinden

a)    Ich fühle mich ungeliebt, wertlos, ignoriert, übergangen und wütend

b)    Ich fühle mich ungeliebt, wertlos, ignoriert, übergangen und wütend

c)    Ich fühle mich ungeliebt, wertlos, ignoriert, übergangen und wütend

d)    Ich fühle mich ungeliebt, wertlos, ignoriert, übergangen und wütend

 

Ja, fabelhaft! (Ironie)

Da basteln sich die NTs also wieder ihre geliebten Kunstgefühle und suhlen sich wieder mal stundenlang da drin rum, und ich soll wieder mal Schuld sein an dem, was sie sich so zusammenfühlen. So kann man sich auch beschäftigen. So bekommt man den Tag auch rum. Aber das ist weder logisch noch real.

 

Aber beim Empfinden bleibt es ja nicht. Da die NTs nicht sehen wollen, dass sie für ihre Gefühle verantwortlich sind, bin ich der Schuldige und werde ich dementsprechend abgeurteilt.

 

 

4

Zuschreiben/Urteilen

 

a)    Was für ein arrogantes Arschloch!

b)    Was für ein arrogantes Arschloch!

c)    Was für ein arrogantes Arschloch!

d)    Was für ein arrogantes Arschloch!

 

 

Tja.

Und das bin ich dann halt: Ein arrogantes Arschloch. Kann man nichts machen. (Und nicht vergessen – ich bin darüber hinaus ja auch noch finster, merkwürdig, seltsam, unhöflich, gefährlich, eigen, verschlossen, unnahbar und was weiß ich).

Wenn man im Film einen wirklich fiesen Bösewicht braucht, irgendeinen psychopathischen Serienkiller oder sowas, dann sollte man diese Rolle mit mir besetzen.

 

Interessant ist vielleicht aber noch folgendes

 

 

5

Was wirklich geschah

 

a)    Da ich gesichtsblind bin, habe ich die Person einfach nicht erkannt. (Ich kann nicht mal meine Töchter am Gesicht unterscheiden). Oder ich war derart in Gedanken, dass ich den anderen einfach nicht wahrgenommen habe.

b)    Ich war konzentriert auf der Suche nach einer bestimmten Person. Da ich in diesem Raum nicht fündig wurde, ging ich weiter.

c)    Ich hatte nicht damit gerechnet, in diesem Raum NTs vorzufinden. Da ich zu geradezu exorbitanter Schüchternheit neige, wenn ich nicht in meinem NT-kompatiblen Arbeitsmodus bin, bin ich entsetzt zurückgeprallt und geflohen.

d)    Mein logischer IQ liegt näher an 200 als an 100. Deutlich. Wenn ich sage, dass etwas unlogisch ist, dann ist das in aller Regel auch so. Ich lasse mich gerne durch Argumente überzeugen. Aber wenn meine Algorithmen sagen, dass ein solches menschliches Verhalten nicht stattgefunden haben kann, dann wird das vermutlich auch so sein. Und ein „Ich war dabei“ ist nachweislich kein Argument.

 

Da es mir fast völlig gleichgültig ist, was andere von mir halten, starte ich in solchen Fällen keine Charmeoffensive. Und genauso oft wie ich gehört habe, dass man mir nachsagt, arrogant zu sein, bekomme ich diese verblüffte Rückmeldung:

„Du bist ja gar nicht so ein arrogantes Arschloch, wie sie mir immer erzählt haben!“

 

Mal bin ich ein arrogantes Arschloch, mal bin ich so ziemlich das Gegenteil. -

Ich nehme es, wie es kommt.

 

Einem NT, der mir besonders penetrant damit kam, was ich für ein unmöglicher Mensch sei, dem sagte ich mal:

„Was du von mir hältst oder nicht, das ändert nichts an der Wirklichkeit.“

Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mich verstand. Deshalb hier nochmal in Zeitlupe:

 

Wer Gründe sucht, um sich schlecht oder abgelehnt zu fühlen, der wird immer welche finden. Und da die allermeisten NTs in sich ständig dieses nagende und bohrende Gefühl spüren, nicht liebenswert zu sein, neigen sie dazu, Gründe für dieses schreckliche Gefühl in der Außenwelt zu finden. Diesen Grund in der Außenwelt können sie dann bekämpfen. Das erspart es ihnen, nach innen zu schauen und sich mit den wirklichen Ursachen für dieses Gefühl zu beschäftigen. Und mal ganz offen gefragt: Was kann ich dafür, wenn ein NT, dem ich begegne, so wenig liebesfähig ist, dass er sich nicht einmal selbst lieben kann?

 

Arrogant, wie ich nun mal bin, schaue ich mir das an und nehme es, wie es kommt.

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