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Kalt

Auch auf die Gefahr hin, mit der Thematik zu langweilen oder zu nerven – das hier ist mein Blog und vieles, was ich hier schreibe, ist nicht verstehbar, wenn man das nicht weiß.

 

Vorgestern habe ich im Zimmer meiner jüngeren Tochter die Heizung repariert. Keine große Sache – das Ventil war verklemmt, und ich musste ein wenig schrauben, stochern und schmieren, bis der Stift im Ventil sich wieder frei bewegte und das heiße Wasser in die Heizrippen floss.

 

Aber es gab in meinem Leben auch andere Zeiten, und davon will ich heute schreiben. Mein „kalt“ ist nicht euer „kalt“.

 

In der Wohnung, in der ich groß wurde gab es weder Isolierung noch Heizung. Und eine Leitung für warmes Wasser gab es auch nicht. Meine leiblichen Eltern waren nicht nur ziemlich arm, sondern auch ziemlich geizig. Deshalb war mein Leben in der dunklen Jahreszeit vor allem eins – kalt. Und damit meine ich mein „kalt“, nicht eures.

 

Wenn ich heute von anderen höre, dass ihnen kalt ist oder dass ihnen den ganzen Tag nicht richtig warm geworden ist, oder wenn sie sich beschweren, dass die Heizung ausgefallen ist oder was auch immer …

 

… dann erlebe ich, dass die Kluft zwischen unseren Welten nicht zu überbrücken ist.

 

Ja, ich verstehe, was ihr meint. Euer „kalt“ bedeutet in Wirklichkeit „ungemütlich“. Und ich würde mich an eurer Stelle auch beklagen und versuchen, Abhilfe zu schaffen. Aber ganz ehrlich – kalt in meiner Welt ist anders. In meiner Welt ist „kalt“ genau das – „kalt“.

 

Die Temperatur bei uns daheim wurde vor allem von meiner leiblichen Mutter bestimmt – sowohl die seelische Temperatur als auch die physikalische Temperatur. Und meine leibliche Mutter liebte es ziemlich kalt. Seelisch und physikalisch. Als ich größer wurde und der Wissenschaftler in mir immer stärker wurde, fing ich an, alles mögliche zu messen, um mir ein klares Bild von der Lage zu machen. Ich maß auch, bei welcher Temperatur sich meine leibliche Mutter tagsüber besonders wohl fühlte – das waren 15 °C. Nachts lagen diese Temperaturen etwas niedriger. (Ich habe mich schon im Bauch meiner leiblichen Mutter ziemlich kalt gefühlt). Lange Zeit hielt ich dieses Temperaturempfinden für pathologisch, bis ich bei Tony Attwood las, dass AS manchmal ein ganz eigenes Wärmeempfinden haben als andere. Manche AS mögen es ganz einfach kalt. Ich gehöre eindeutig nicht dazu.

 

Kalt ist nicht, wenn die Heizung mal ein paar Tage nicht geht. Kalt ist auch nicht, wenn man sich zu dünn angezogen hat, und der Bus sich verspätet. Kalt ist auch nicht, wenn man mal einen grippalen Infekt hat und den ganzen Tag nicht richtig warm wird. Das ist für euch kalt. Aber kalt in meiner Welt geht anders.

 

Kalt ist, wenn du monatelang Tag und Nacht nicht richtig warm wirst. Dein unterernährter und ausgemergelter Körper kann einfach nicht die nötige Energie aufbringen, um die Wärme zu produzieren, die nötig wäre. Warme Kleidung hast du nicht oder sie fühlt sich auf der Haut so an, als ob du gefoltert würdest. (Wie sich Kleidung anfühlen kann, dazu wird es vermutlich irgendwann einen eigenen Blogtext geben). Die Sohlen deiner Schuhe sind dünn wie Papier und jeder Wind und jeder Regen geht durch deine Kleidung als ob du überhaupt keine anhättest. Sei froh, wenn du zur Schule gehen kannst, denn da heizen sie meistens.

 

Ich will das anhand ein paar ganz konkreter Beispiele verdeutlichen:

 

Kalt ist, wenn du dich abends fürchtest, ins Bett zu gehen und du es so lange hinausschiebst, wie es irgend geht. Denn dort ist es besonders kalt. Wenn du die Decke zurückschlägst und dich da hinlegst, hast du den Eindruck, dass du in einen Kühlschrank steigst. Alles ist kalt. Richtig kalt. Du versuchst, dich zu einem Klumpen zusammenzurollen, denn je kleiner die Kugel ist, zu der du dich machst, desto größer ist die Chance, dass du das bisschen Wärme, dass du in deinem Inneren noch hast, wenigsten ein paar Stunden bewahren kannst. Wenn du die Bettdecke über den Kopf ziehst und beständig in Richtung Füße atmest, kannst du die kostbare Wärme, die sonst über deinen Atem entweicht für dich bewahren. Mit etwas Glück kannst du so in deinem Bett einen kleinen Bereich schaffen, der sich nicht ganz so kalt anfühlt, so dass du wenigstens einschlafen kannst.

 

Kalt ist, wenn du noch vor Sonnenaufgang aufwachst, weil du im Schlaf derart gezittert hast, dass du Krämpfe davon bekommen hast. Dann hast du vor allem mit deinen schmerzenden Gliedmaßen zu tun, und das lenkt dich von der allgegenwärtigen Kälte ab.  

 

Wenn du dann morgens aufstehen musst, ist es eh egal – denn im Bett ist es auch nicht wärmer als in der eiskalten Wohnung. Wenn es mal besonders kalt ist, dann kannst du mit den Dampffahnen spielen, die sich vor deinem Gesicht bilden, wenn du heftig ausatmest oder du kannst jetzt die Socken wechseln.

 

Meine leiblichen Eltern sahen es nicht gerne, wenn ich nachts im Bett die gleiche Kleidung trug wie tagsüber. Das erinnerte sie zu sehr an die Jahre nach dem Krieg, sagten sie. Aber manchmal war das eine ganz praktische Lösung.

 

Tagsüber ging das so weiter. Wie gesagt: 15 °C waren ideal – es durften aber auch gerne ein paar Grad weniger sein. Jeden Tag. Woche für Woche, Monat für Monat. Tag und Nacht. Und warme Kleidung gab’s einfach nicht. Wenn in einer Wohnung keine Heizung ist, und die Wohnung darüber hinaus über keinerlei Isolierung verfügt, wird es kalt. Da ist die Idealtemperatur ab September ziemlich schnell erreicht. Und das bleibt bis Ende März so. Durchgehend.

 

Manchmal befeuerten meine leiblichen Eltern den Kohleofen in der Küche. Aber das diente eher zum Kochen als zum Heizen. Und in der Küche wollte uns unsere leibliche Mutter eh nicht haben.

 

Einschub

Und falls jemand von euch sich das fragt:

Ja, selbstverständlich wird man als Kind krank davon. Wenn du als ausgemergeltes und unterernährtes Kind in so einem Umfeld groß wirst, sind Winter und Krankheit für dich ein und dasselbe. Deine Nase läuft ständig und Husten hast du mindestens die Hälfte der Zeit. (In meiner speziellen Situation ist noch wichtig: Krankheit solltest du verbergen. Deine leiblichen Eltern reagieren sehr gereizt, wenn du erkrankst – erst spotten sie über dich, dann schimpfen sie dich aus, und wenn du es wagen solltest zu lange und zu laut zu husten, dann wirst du ziemlich geschlagen. (Ich habe Erfahrungen mit unterdrücktem Hustenreiz, die den meisten meiner Mitmenschen völlig unbekannt dürften). Wenn man nicht krankenversichert ist, ist Medizin sehr teuer und Arztbesuche sind unerschwinglich. Dann schon lieber die Kinder schwer verprügeln, wenn sie es wagen sollten, krank zu werden. Aber das würde ich eher unter „Gewalt“ als unter „kalt“ subsummieren)).

Einschub Ende

 

Ich erinnere mich an den einen Tag, wo meine leiblichen Eltern das Kinderzimmer beheizten, indem sie für eine Stunde oder so den kleinen elektrischen Grill da rein stellten und laufen ließen. Für meine Geschwister und mich war das ein wahres Fest. Wir versammelten uns um diesen leise schnurrenden Grill wie um ein Lagerfeuer und begannen, aufzutauen.

 

Kalt ist, wenn das so jeden Tag geht. Kalt ist eine eigene Art, in der Welt zu sein. Und entweder findest du Wege, damit klar zu kommen oder du verzweifelst und wirst verrückt. Schon als kleines Kind weißt du, dass irgendwann die Tage länger werden werden, und dass du nur bis dahin durchhalten musst. Frühlingssonne kann eine wahre Erlösung sein.

 

(Und nochmal zur Erinnerung – in dieser Wohnung gab es weder Dusche noch Badewanne. Es gab einen Wasserhahn, aus dem kaltes Wasser lief. Und es gab einen anderen Wasserhahn, aus dem auch kaltes Wasser lief. Es kam immer wieder vor, dass wir unsere Finger da rein hielten, weil wir das Wasser als warm empfanden. Aber was es bedeuten kann, im Winter warm duschen zu können, habe ich erst gelernt, als ich zehn Jahre alt war).

 

 

Heute lebe ich in eurer Welt und kann heizen wie ich mag. Aber diese kleinen verfrorenen Jungen sind in mir noch sehr lebendig. Und wenn denen nach Wärme ist, dann sieht das gerne mal so aus:

Dann nutze ich eine meiner stundenlangen Dienstfahrten im Auto und drehe sowohl Heizung als auch Gebläse für viele Stunden bis zum Anschlag auf. Ich habe dann immer den Eindruck, in einer 40 °C – Kugel über die Autobahn zu sausen. Aber mir wird nicht heiß. Ich schwitze kein bisschen. Meine Kleinen saugen diese Wärme bis zum letzten Quantum auf. Sie brauchen Wärme für ein ganzes Leben.

 

Oder ich setze mich dick in Winterkleidung verpackt in meiner – gut geheizten – Wohnung an den Schreibtisch und wärme meine Hände am Netzteil meines Laptops. Auch dabei wird mir nicht heiß. Meine Kleinen saugen jedes Quantum Wärme begierig auf.

 

 

Einer meiner Weggefährten bekam im letzten Winter mit, wie ausgeprägt mein Wärmebedürfnis in geheizten Wohnung manchmal ist und erwähnte das dann ein paar Wochen später liebevoll spöttisch mit:

„Als das große Heizen begann …“

 

Ich fand das nett.

Ich mache niemandem zum Vorwurf, dass er nicht weiß, was das Wort „kalt“ in meiner Welt bedeutet. Es reicht mir völlig, dass meine Kleinen mir das erzählen, und ihnen reicht völlig, dass ich ihnen zuhöre und sie ernst nehme.

 

Mein kalt ist nicht euer kalt. Und vermutlich wird diese Kluft auf ewig nicht überbrückbar sein. Damit kann ich leben. Ich wollte es nur mal schildern.

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