Neunkommavier

*** Achtung, dieser Text hat einiges Triggerpotenzial. Lesen Sie ihn bitte nur dann,

     wenn Sie in stabiler Gemütsverfassung sind. ***

 

(Ich danke Professor Vogeley, der mich auf dieses Thema aufmerksam machte und mir den wissenschaftlichen Text zur Verfügung stellte).

 

Vor mir liegt ein Artikel aus einer wissenschaftlichen Zeitschrift: The British Journal of Psychiatry. Er ist aus dem Jahr 2016 und geht der Frage nach, ob Autisten früher sterben als Nichtautisten. Die Antwort ist: ja. 

 

Ich will hier mich nur auf die Ergebnisse konzentrieren, die für die Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) gefunden wurden. (Der Text listet auch Ergebnisse für Kanner-Autisten auf).

Ich will aus den 14 verschiedenen Todesursachen, die hier untersucht wurden, eine herausgreifen, die mir besonders am Herzen liegt: Selbsttötung – Suizid.

 

 

Die Fakten

In dieser Untersuchung wurden über 20.000 Schweden, bei denen AS diagnostiziert worden war, einer Kontrollgruppe von mehr als 2,5 Millionen Schweden gegenübergestellt, bei denen Autismus nicht diagnostiziert worden war. Die Kontrollgruppe war in Sachen Alter, Geschlecht und Wohnort den AS gleich. Betrachtet wurde der Zeitraum zwischen 1987 und 2009.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein AS sich in diesem Zeitraum selbst tötete, war 9,4 mal so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sich aus der nichtautistischen Kontrollgruppe in diesem Zeitraum tötete.

 

Dieses Ergebnis ist hochsignifikant (p <0,001).

Mit anderen Worten: Das Ergebnis dieser Messung ist nicht zufällig zustande gekommen, sondern das ist so: AS töten sich etwa zehnmal so häufig wie NTs.

 

 

Meine grundlegenden Gedanken zu diesen Fakten

Ich habe mir diese Untersuchung gründlich angeschaut. Ich kann keinen methodischen Fehler finden. Mit anderen Worten – es ist davon auszugehen, dass Schweden mit Asperger-Syndrom sich ungefähr zehnmal häufiger umbringen als neurotypische Schweden.

 

Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass die neurotypischen Schweden unmenschlicher mit ihren autistischen Mitbürgern umgehen als die Neurotypischen in anderen Ländern.

Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass die Autisten in Schweden –verglichen mit den neurotypischen Schweden – von ihrer Veranlagung her grundsätzlich suizidgefährdeter sind als die Autisten – verglichen mit den dortigen Neurotypischen - in anderen Ländern.

 

Halten wir also fest:

AS töten sich etwa zehnmal so häufig wie NTs.

 

Das ist recht abstrakt. Was bedeutet das denn jetzt?

 

 

Was ist aus meiner Sicht sonst noch dazu zu sagen?

Den einen oder anderen AS habe ich im Internet näher kennen gelernt. Den einen oder anderen AS habe ich in persönlichen Gesprächen näher kennen gelernt. Bis auf eine Ausnahme, bei der ich mir nicht sicher bin, war Suizid oder die Gedanken daran, Thema. Mit anderen Worten: Ich habe den Eindruck, dass Selbsttötung ein Thema ist, das so ziemlich jeden AS beschäftigt.

 

Das seelische Leid, das diese Gedanken erst auslöst, ist dementsprechend.

 

Oder nochmal anders ausgedrückt:

Verglichen mit den NTs geht es den AS auf diesem Planeten offensichtlich richtig dreckig.

 

Woran liegt das?

Die Autoren der Studie vermuten, dass die psychischen Beeinträchtigungen, die die AS haben, ursächlich für die hohe Suizidrate sind. Ihnen gelingt es einfach nicht, die Sozialkontakte aufzubauen bzw. die Hilfe zu suchen und zu finden, die wirksam und nachhaltig vor Suizid schützt.

 

Ihre Argumentation ist nach allem, was ich sehen kann, genauso zirkulär wie die anderer neurotypischer Experten.

Ich will es mal ganz krass auf den Punkt bringen:

Die Menschen mit Asperger-Syndrom sind gestört. Ihre Störung führt dazu, dass sie sich nicht wohl fühlen und sich auch keine Hilfe suchen können und sich zehnmal häufiger umbringen als die Normalen. Tja. So ist das. Da kann man nichts machen. Auf jeden Fall sind auf gar keinen Fall die Neurotypischen und die Drücke, die sie auf die Autisten ausüben in irgendeiner Weise ursächlich für diese extrem hohe Selbsttötungsrate.

So jedenfalls interpretiere ich die Erklärungsansätze der Autoren dieser Studie.

 

Ich will deshalb an dieser Stelle mit aller Energie und aller rhetorischen Härte dagegenhalten, damit das endlich mal klar wird:

 

Dass die Suizidrate unter uns Autisten um ein zehnfaches höher ist als bei den Neurotypischen liegt nicht daran, dass wir am Asperger-Syndrom leiden oder irgendwie gestört sind. Nein, es liegt daran, dass uns die Neurotypischen das Leben auf diesem Planeten zur Hölle machen. Sie setzen uns permanent derart grausam unter Druck, dass viele von uns nur noch einen Ausweg sehen – die Selbsttötung.

 

Sie machen es nicht absichtlich, die Neurotypischen. Es ist einfach ihre Art, in der Welt zu sein. Viele von ihnen wären vermutlich ehrlich erschrocken und bestürzt, wenn sie wüssten, was ihre Art, in der Welt zu sein, in uns auslöst. Aber wenn wir nicht allmählich die Ursachen für unser Leiden klar benennen, wird das nie was mit der Besserung unserer Lebenssituation.

 

Ich halte dieses nicht endende Geschwätz der neurotypischen Experten, dass wir gestört seien oder zu wenig Filter im Kopf hätten (oder was auch immer), angesichts dieser extrem hohen Selbsttötungsraten für (mindestens) grob fahrlässig. Es ist notwendig, dass bei den Neurotypischen ein Umdenken stattfindet. Dieses Umdenken sollte zu allererst bei den Neurotypischen beginnen, die Experten für das Asperger-Syndrom sind oder sich aus anderen Gründen beruflich mit Asperger-Autisten beschäftigen.

 

Für viele von uns ist dieses Umdenken tatsächlich eine Frage von Leben und Tod. 

 

Für die Neurotypischen unter meinen Lesern will ich an dieser Stelle zwei Themenbereiche näher beleuchten, die in meinem Leben ursächlich für Suizidgedanken waren.

 

Ursache 1 – Ich lerne, dass ich falsch bin

Wer als Autist groß wird, bekommt von seiner Umwelt ab den ersten Lebensmonaten vor allem eine Botschaft:

„Du bist falsch!“

 

Diese Botschaft bekommt er buchstäblich von allem und jedem, und er bekommt sie jeden Tag von morgens bis abends. Sie kommt in allen möglichen Formen daher – von der freundlich gesäuselten Ermutigung:

„Warum gehst du nicht mal raus, mit den anderen Kindern spielen? Schau, draußen ist so schönes Wetter …“

bis hin zum intensiven Mobbing, das vermutlich jeder Autist schon mehrfach in seinem Leben erdulden musste.

 

Wenn ein kleines Kind beinahe unaufhörlich mit dieser Botschaft bombardiert wird:

„Du bist falsch! Du bist falsch! Du bist falsch!“

dann hat es buchstäblich keine andere Wahl, als diese Botschaft zu akzeptieren. Aus „Du bist falsch!“ macht das kleine Kind dann

„Ich bin falsch!“

Es kann nicht anders.

 

Ausnahmslos jeder Autist, den ich kenne, hat diese Grundüberzeugung als kleines Kind auf’s Tiefste verinnerlicht:

„Ich bin falsch!“

Das ist uns mit einem Brandeisen in die Seele gestempelt worden.

 

Wer als Kind der Grundüberzeugung ist, falsch zu sein, der setzt alles, was in seiner Macht steht, dafür ein, „richtig“ zu werden. Aber dieser Weg ist uns versperrt. Um in der NT-Welt „richtig“ zu sein, müssten wir neurotypisch sein. Das ist schon rein physikalisch völlig ausgeschlossen.

 

So ist vermutlich jedes autistische Kind mit diesem Widerspruch konfrontiert:

a)    Ich bin falsch

b)    Ich versuche, richtig zu sein, aber das gelingt nicht. Egal, was ich auch tue, es ist falsch.

 

Zu erleben, falsch zu sein und nichts daran ändern zu können, ist für jeden Menschen absolut vernichtend – egal ob er Autist oder Neurotypischer ist.

 

Später, wenn wir Autisten erwachsen sind, helfen uns die sogenannten „Experten“ und die „Helfer“ auf die Sprünge.

Die Experten werden nicht müde, uns wieder und wieder und immer wieder einzuschärfen, dass das, was wir sind, eine tiefgreifende Entwicklungsstörung ist. Mit anderen Worten: Wir sind gestört. Wir sind falsch.

Letztens musste ich mir wieder von ein paar Experten anhören, dass wir AS zu wenige Filter für sensorische Eindrücke im Kopf hätten und deshalb immer so schnell erschöpft seien. Da war es wieder: „Du bist falsch!“ „In deinem Kopf bist du nicht richtig!“

 

Und die, die helfen sollten – ja, die bringen uns bei, nicht wir selber zu sein.

Denn wir sind ja falsch, nicht wahr?

Wir sollen uns anpassen und uns Mühe geben und soziale Fähigkeiten einüben – kurz, wir sollen lernen, Neurotypische zu werden. Oder uns zumindest wie solche zu verhalten. Denn wir sind ja falsch.

 

Ich habe es an anderer Stelle schon mal geschrieben, ich wiederhole es hier wieder:

Liebe Neurotypische – wenn ihr dem sozialen Druck ausgesetzt wärt, dem ihr uns Autisten laufend aussetzt … Es gäbe erheblich weniger von euch, weil so viele von euch sich schon nach wenigen Wochen umbringen würden.

 

Ein Mensch braucht grundsätzlich das Gefühl, rundherum angenommen zu sein, geliebt zu werden und selbstverständlich dazu zu gehören, wenn er seelisch gesund leben will. Mit euch, liebe NTs ist das nach meiner Erfahrung nicht möglich. Denn für euch sind wir falsch.

 

 

Ursache 2 – Die Neurotypischen haben ein paar Filter mehr im Kopf als ich.

Die NTs haben ein paar Filter mehr im Kopf als ich und machen mir deshalb das Leben sensorisch zur Hölle. Das kann im Suizid münden.

 

Ich will das an einem kleinen Ausschnitt meiner sensorischen Wahrnehmung erläutern – der Dudel-Dudel-Musik.

 

Ich brauche Stille wie andere Luft zum Atmen. Aber da, wo die NTs sind, ist es beinahe nie still. Ein stiller NT scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein.

 

Stille scheint den NTs buchstäblich unerträglich zu sein. Ihre Dudel-Dudel-Musik, mit der sie die Stille zerstören, scheinen sie überall hin mitzunehmen. In Geschäften, Fußgängerzonen, Aufzügen, öffentlichen Toiletten, Büros, Fabriken, Behörden, Flugzeugen, Wartehallen, Schwimmbädern, Restaurants, Autowerkstätten, Tankstellen, Hotels, Arztpraxen, Raststätten – wo NTs auftauchen, da ist Dudel-Dudel-Musik.

 

Diese Musik dient einem einzigen Zweck:

Sie soll die Stille zerstören. Ich brauche aber Stille wie die Luft zum Atmen. Und wenn mir das, was ich so nötig zum Leben brauche, so mutwillig und so systematisch zerstört wird, kann mich das buchstäblich in den Wahnsinn treiben.

 

Da wo die NTs sind, ist es beinahe nie still. Ein stiller NT scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Wenn NTs mitbekommen, dass ich sie so erlebe, sind sie immer wieder sehr aufgebracht. Dann kommen sie wütend zu mir und beschweren sich wortreich, dass ich so über sie denken würde. Denn in Wirklichkeit wäre das ganz anders, und Stille wäre in ihrem Leben unheimlich wichtig. In der Regel haben sie dann irgendwelche Stille-Seminare mitgemacht, in denen sie mit Hilfe von Achtsamkeitsübungen behutsam an das Thema Stille herangeführt wurden. Und seitdem könnten sie sich ein Leben ohne Stille gar nicht mehr vorstellen … Wie man sieht: Die NTs machen sogar dann Geräusche, wenn sie mir ihre Liebe zur Stille nahe bringen wollen. Der Widerspruch fällt ihnen dabei nicht auf. Und wenn sie so wortreich über Stille reden, wird mir jedes Mal deutlich: Für sie ist es still, wenn es mal nicht gar so laut zugeht: Leise Klimpermusik im Hintergrund, Vogelgezwitscher, Wasserplätschern, Wind in den Baumwipfeln – das ist für sie Stille. Für mich ist es still, wenn es still ist. Und das ist ein riesiger Unterschied.

 

Natürlich versuche ich, mich zu schützen. Wenn ich meine Wohnung verlasse, trage ich beinahe immer Ohrenstöpsel. Ich meide Ansammlungen von NTs, wann immer ich das kann. Aber ich erlebe die NTs mit dem Krach, den sie zum Leben brauchen als völlig gedanken- und distanzlos. Es ist mir oft physikalisch nicht möglich, ihrem Krach zu entgehen. Und oft genug erlebe ich dann das, was ich „NT-Vergiftung“ nenne. Dann kann ich einfach nicht mehr. Mein Körper ist dann restlos überlastet. Ich ertrage dann buchstäblich keine einzige Note Musik mehr. Jedes zusätzliche einfach dahergelaberte Wort kann mich in die Verzweiflung treiben. Jedes Handyklingeln bereitet mir dann unerträgliche Schmerzen. Und so weiter.

 

Wenn ich mich dann umbringen würde, hätte ich eine sehr beruhigende und sehr verlockende Sicherheit: Es wäre endlich still! Für immer! (Odysseus musste in vergleichbarer Situation an den Mast gebunden werden, damit er einer solchen Verlockung nicht erlag).

 

Liebe NTs, wenn ihr akustisch so sensibel wärt wie ich, dann wäre diese Welt eine ganz andere. Milliarden würden in die Schalldämpfung investiert. Autos würden beinahe lautlos über die Straßen rollen, alle Baumaschinen wären derart schallgedämpft, dass man sie in 10 Meter Entfernung kaum noch hören könnte. Niemand würde mehr wochenends Löcher in irgendwelche Wohnungswände bohren, Rasenmähen und Laubblasen wäre eine völlig lautlose Angelegenheit. Ähnlich wie das Rauchen wäre – für andere hörbare - Musik in öffentlichen Räumen strikt verboten. Jeder dürfte seine Musik über Kopfhörer hören, klar. Aber wer Musik so hören wollte, dass andere das mithören können, müsste dazu gesonderte, geschlossene Räume aufsuchen. Wohnungen hätten immer so dicke Wände, dass man die Musik und die Wohngeräusche des Nachbarn nicht hören kann. Rumpelnde Lastwagen oder Müllautos – gäbe es nicht. Quietschende Türen, klappernde Apparaturen, sirrende Neonröhren – undenkbar!

Und so weiter, und so weiter.

 

Analoges gilt natürlich auch für den optischen, den olfaktorischen und den taktilen Bereich. (Keine Kleidung mehr mit kratzenden Etiketten im Nacken!)

 

Liebe NTs, wenn ihr sensorisch so sensibel wärt wie ich, würdet ihr Milliarden und Abermilliarden investieren, damit diese grässliche Welt erträglicher und vielleicht sogar wohnlich für euch wird. Glaubt mir – ihr würdet es tun. Ihr würdet es mit Freuden tun. Ihr würdet darum bitten, noch mehr Geld für diese Sache ausgeben zu können. Denn andernfalls wäre dieser Planet beinahe unbewohnbar für euch.

 

 

Was bleibt?

Menschen mit Asperger-Syndrom bringen sich zehnmal häufiger um als Neurotypische. Das ist den allermeisten Neurotypischen derart egal, dass sie nicht mal davon wissen.

 

Wenn sie es zur Kenntnis nehmen würden, würden sie vermutlich zu einer von diesen Strategien greifen:

 

1

Das ist die Schuld der Autisten. Die sind falsch. Die sollen sich ändern, dann passiert ihnen das auch nicht. Ich hab‘ schließlich auch meine Probleme – bring ich mich deshalb um? Na – siehste. Du musst dich nur ein bisschen zusammenreißen. Gib dir Mühe, verdammt!

Mein Gott! Wie kann man nur so empfindlich sein!

 

2

Ogottottogott, die armen Menschen! Denen muss man doch helfen! Schnell – lasst uns was unternehmen! Am besten wir organisieren Selbsthilfekreise und jeder nimmt einen Autisten bei sich in der Familie auf, damit er nicht mehr so einsam ist. Und dann sind wir Tag und Nacht für ihn da und beschallen ihn mit freundlicher, leiser Musik und machen es ihm so richtig gemütlich …

 

3

Ernste Sache. Da müssen wir was tun. Wir werden ein Konzept entwickeln, das den AS zuverlässig hilft, neurotypisch zu werden. Und durch dieses Anpassungsprogramm müssen sie dann alle durch – und wenn es sie umbringt! Und sollte sich dann tatsächlich der eine oder andere umbringen, dann ist er wenigstens als Neurotypischer gestorben.

 

4

Ich weiß was, ich weiß was!

Wir richten ein Reservat für die Autisten ein. Da dürfen sie den ganzen Tag dann so leben wie sie wollen. Da müssen sie sich auch nicht umbringen. Wir mieten dazu unbeleuchtete und unbeheizte Kellerräume in verlassenen Hochhäusern an und die stellen wir dann voller Computerzeug und so. Dann können die den ganzen Tag in ihrer autistischen Welt leben und ihren Computerkram machen, den sie so lieben.

Und damit das Ganze sich finanziell trägt, kann man das Montag bis Freitag zwischen 10:00 und 19:00 gegen Eintritt besichtigen.

 

So ungefähr stelle ich mir das aufgrund meiner Erfahrung vor.

Die Neurotypischen werden wieder zusammensitzen und gaaaanz viele Gespräche führen, in denen sie sich gaaaaanz lange über Autisten unterhalten. Und dann werden sie irgendwas in die Wege leiten. Denn jetzt wissen sie ja Bescheid. Denn sie haben ja über die Autisten gesprochen.

 

(Falls jemand das nicht glaubt, biete ich folgende Wette an:

Bringe 90 Autisten und 10 Neurotypische in einen Raum und bitte sie, sich klar zu werden, was Autisten denn wirklich helfen würde. Ich wette, dass die 10 Neurotypischen weit über 90 Prozent der Redezeit für sich beanspruchen werden).

 

Ich habe keine Lösung für diese Problematik.

Ich habe auch nicht die Ressourcen und die Kraft, diesen Ansatz energisch weiter zu treiben.

 

Aber wenn auch nur ein einziger Neurotypischer durch diesen Text veranlasst würde, mit dem Umdenken zu beginnen, dann wäre das schon ein Erfolg.

 

 

 

Quelle:

Hirvikoski, T., Mittendorfer-Rutz, E., Boman, M.,Larsson, H., Lichtenstein, P., Bölte, S.:

Premature mortality in autism spectrum disorder; The British Jounal of Psychiatry (2016), 208, 232 - 238 

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Kommentare: 12
  • #1

    Neo-Silver (Samstag, 19 Mai 2018 20:31)

    Hallo Stiller,

    du sprichst eine Vielzahl an Problemen an, über welche ich mir oft Gedanken mache, aber nie so recht zu einer Lösung komme.
    Meiner Meinung nach bist du in deinen Aussagen teilweise etwas zu sehr befangen und mir fehlt daher in den Texten ein bißchen mehr Objektivität.

    Eventuell ist aber mein Gedanken-Wirrwarr, wenn ich versuche die Tatsachen - Autisten im Verhältnis zu Nicht-Autisten - zu analysieren, nicht der Situation angemessen, da ich selber Autist bin und daher ebenso eher befangen argumentieren sollte, da dies die Bedürfnisse der Autisten eher vertreten würde.
    Das Gedankenproblem entsteht dabei die o.g. Situation aus einer dritten Perspektive zu betrachten ohne dabei parteiisch zu agieren.

    Die subjektive Beurteilung der Gefühle der Nicht-Autisten und Autisten ist ausschlaggebend für einige Gedankensituationen und auch wenn mir bewusst ist, dass eine rein objektive Beurteilung utopisch zu sein scheint, darf sie nicht zu sehr befangen sein, da wir dann ebenso handeln, wie es die Menschen tuen die wir kritisieren.

    Wenn ich also aus der dritten Perspektive betrachte und die Prämisse erhebe das ein Autist unter Krach in dem Maße leidet, wie ein Nicht-Autist, welchem der Krach entzogen wird, sind die Lösungen sehr eingeschränkt.

    Dieses Beispiel ist rein fiktiv und ich bin nicht der Meinung, dass diese beiden Variablen gleichgesetzt sind, allerdings kann ich es nicht objektiv genug überprüfen und bin vermutlich auch befangen, wenn ich behaupte, ich als Autist leide mehr.
    Der Sachverhalt ist natürlich komplexer und nicht nur auf einen Reiz und ein Gefühl zu reduzieren.


    In diesem Zusammenhang klingt ein autonomes, autarkes Reservat, mit ausreichender Fläche für Autisten, gar nicht so verkehrt und fast schon idyllisch, wäre es nicht so abwegig und degradierend.


    ---------------------------------------------------------------------------

    Mir ist zusätzlich die Textstelle "(Keine Kleidung mehr mit kratzenden Etiketten im Nacken!)" aufgefallen, welche einen Fakt widerspiegelt, welchen ich so ähnlich schon öfter von Autisten gelesen habe.
    Es ist natürlich logisch, das Menschen mit einer taktilen Überempfindlichkeit stark auf solche Schilder reagieren, daher habe ich eine nicht themenbezogene Frage:
    "Hast du bei dem Versuch die Etieketten aus der Kleidung zu entfernen, auch schon dem ein oder anderem Kleidungsstück Löcher verpasst?".

    Ich erinnere mich sowohl an meine Kindheit, als auch die zeitnahe Erwachsenenzeit und fast immer habe ich durch meine teilweise ungeschickliche Art und Weise Löcher verursacht, als ich die Schilder herausschneiden wollte.

  • #2

    Neo-Silver (Samstag, 19 Mai 2018 21:04)

    Nachtrag:
    Einen wichtigen Punkt habe ich im obigen Text unterschlagen und möchte ich jetzt hier nachholen.

    Dies ist nur meine Interpretation und ich besitze zwar grundlegendes Fachwissen in der Psychologie und vertieftes Wissen in der Physiologie, habe allerdings keinerlei Daten um meine These zu unterstützen.

    Ich bin der Meinung das Ursache 2 nur eine sekundäre Beteiligung daran hat die Selbstmordrate zu erhöhen, da diese Reize zwar nervig und teilweise unerträglich sind, zu Schmerzen und zu einer Überbelastung führen aber dann doch eher organische Schäden als Folge haben sollten.

    Wenn ich die Fakten, welche auf Aussagen von Autisten beruhen, analysiere, ist klar, dass Autisten, ebenso wie die Nicht-Autisten, in jungen Jahren den Drang verspüren an der sozialen Welt teilzunehmen.
    Dieser mit der wachsenden Anzahl an Erfahrungen teilweise abstumpft, da die Kompabtibilität nicht gegeben ist und unter Berücksichtigung der von dir in "Ursache 1" erläuterten Fakten, also der überwiegend negativen Reflektion durch die restliche Umwelt, dazu führt dass ein negative Selbstbild aufgebaut wird.

    Nichts ist schlimmer als einem Menschen zu vermitteln, dass er weniger Wert wäre, auch wenn Wert im Zusammenhang mit Menschen ein m.M.n. unzulässiger Begriff ist.
    Dies zu tun, kann man als aktive Hilfe zu Selbsttötung bezeichnen.

  • #3

    Lemonbalm (Samstag, 19 Mai 2018 21:15)

    NeoSilver, vielleicht liegt Stillers Befangenheit auch darin, dass er sich jeden Tag aufs Neue mit den NT‘s auf eine Art und Weise und Intensität auseinandersetzen muss, wie wir es nicht tun. Ich bin gespannt, was Stiller dazu schreibt.
    Mein Hund hat mich übrigens bewusstlos gefunden als ich Medikamente geschluckt hatte. Dies tat ich nicht, weil alle mich als falsch ansahen, sondern weil ich das Gefühl hatte trotz enormer Anstrengung in meinem Job, Leben und Umfeld niemals werde bestehen können wie andere es in einer Leichtigkeit geschafft hatten.

  • #4

    Octavia (Samstag, 19 Mai 2018 22:10)

    Hallo Lemonbalm,

    Du schreibst: "Dies tat ich nicht, weil alle mich als falsch ansahen, sondern weil ich das Gefühl hatte trotz enormer Anstrengung in meinem Job, Leben und Umfeld niemals werde bestehen können wie andere es in einer Leichtigkeit geschafft hatten."
    Die zwei Aspekte: a) Dass Du das Gefühl hattest, im Gegensatz zu anderen weniger schaffen zu können, und b) die Überlegung "Ich bin falsch!", sind meines Erachtens nicht unbedingt getrennte Motivationen - sprich: Meines Erachtens schließen sie sich nicht aus, sie wirken auf mich sogar eher verbunden.

    Wenn das Gefühl vorherrscht, nicht so viel leisten/erreichen zu können wie andere, dann existiert ein Kontrast zwischen mir und den anderen, und dann kann man schnell zu dem Schluss kommen: "Ich bin falsch."
    Das nur als Überlegung, da es mir auffiel.

  • #5

    Stiller (Sonntag, 20 Mai 2018 00:48)

    Antwort 1. Teil

    Meine erste Reaktion auf die vielen Kommentare war: "Hu, hier ist ja was geboten!"
    Ich danke für das Vertrauen und die vielen Rückmeldungen und versuche mal, das Schritt für Schritt zu beantworten.

    "Meiner Meinung nach bist du in deinen Aussagen teilweise etwas zu sehr befangen und mir fehlt daher in den Texten ein bißchen mehr Objektivität."
    Rückmeldungen wie diese bekomme ich von Autisten häufiger, wenn ich zu dieser Thematik Stellung beziehe. Allerdings höre ich danach immer keine Argumente mehr. Es kommt nichts in dem Sinne:
    Dein Argument A scheint mir unlogisch weil ..., die Schlussfolgerung B kann ich nicht nachvollziehen, weil ich andere Erfahrungen gemacht habe.

    Ich versuche immer, meine Texte logisch aufzubauen und in einer möglichst klaren Sprache die zugrundeliegenden argumentativen Strukturen transparent herauszuarbeiten.

    Deshalb hier nochmal:
    Nach allem, was ich sehen kann, bringen sich Autisten zehnmal häufiger um als Nichtautisten.
    Da es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass die Gründe für diese extrem hohe Suizidrate darin liegen, dass wir "gestört" sind, sprechen in meinen Augen starke Gründe dafür, dass Umweltfaktoren ursächlich sind.
    Wenn ich diese Umweltfaktoren in den Fokus nehme, fällt mir vor allem auf, dass die Neurotypischen unsere Umwelt in so ziemlich allen Facetten bestimmen. Wenn ich eine Stichprobe von beliebigen 100 Settings - z.B. im sozialen Umfeld - anschaue, dann finde ich 100, die auf die Bedürfnisse der NTs zugeschnitten sind und nicht ein einziges, das auf die Bedürfnisse der Autisten zugeschnitten ist.
    Wir sind also gezwungen, in einer Umwelt zu leben, die nicht zu unseren Bedürfnissen passt. In einem anderen Rahmen habe ich das mal mit einem permanenten Tränengasangriff verglichen, dem wir ausgesetzt sind und wurde dafür heftig angefeindet. Aber die Tatsachen sprechen für sich.

    Also nochmal und kurz:
    Ich finde im Moment kein Argument, das gegen diesen Satz spricht:
    "In einer Umwelt aufzuwachsen und zu leben, die von NTs geprägt wird, ist für Asperger-Autisten potenziell tödlich."
    Wenn eine Arbeitsplatzsitustion zu einer zehnfach höheren Suizidrate führen würde, dann würde diese Arbeitsstätte vermutlich umgehend geschlossen. (Und kaum jemand würde sagen: "Mann, bist du aber empfindlich!")
    Wenn ein Medikament oder ein Nahrungsmittel zu einer zehnfach höheren Suizidrate führen würde, dann würde es vermutlich verboten. (Und kaum jemand würde sagen: "Du musst dir nur Mühe geben, dann wird das schon.")

    Wichtig ist:
    Ich mache den NTs dafür keinen Vorwurf. Das ist ihre Art, in der Welt zu sein.

    Wichtig ist auch:
    Ich habe keine Lösung für dieses Problem. Wir können den NTs schlecht verbieten, neurotypisch zu sein. So eine Forderung wäre in meinen Augen unethisch.

    Nur verwahre ich mich energisch gegen die Unterstellung, dass Ursache für diese hohe Suizidrate die Autisten sind, die zu empfindlich sind, sich zu wenig Mühe geben oder einfach viel zu gestört sind. Alle Asperger-Autisten, die ich bislang kennelernen durfte, waren nach allem, was ich sehen konnte, gesunde Asperger-Autisten. Es war kein einziger behinderter bzw. gestörter NT unter ihnen.

    Und daher bitte ich um Argumente, Details und Erklärungen:
    Wo fehlt in meinen Aussagen die Objektivität?
    Dass ich für die Sache der Autisten so energisch und rhethorisch zugespitzt eintrete, hat mir schon einige Anfeindungen seitens der Autisten eingebracht,. Diese Anfeindungen haben durchaus Spuren in mir hinterlassen. Ich lerne gerne dazu. Aber das letzte, was ich in dieser Sache von einem Autisten hörte, war: "Das ist mir alles zu hoch, aber trotzdem bin ich der Ansicht ..."
    Und das ist kein Argument, sondern eine Ansicht.
    Wenn unsere Ansichten der Logik und den evidenten Tatsachen widersprechen, sollten wir unsere Ansichten ändern.
    Auch und gerade dann, wenn die Tatsachen uns nicht gefallen.

  • #6

    Stiller (Sonntag, 20 Mai 2018 00:49)

    Antwort 2. Teil

    "Hast du bei dem Versuch die Etieketten aus der Kleidung zu entfernen, auch schon dem ein oder anderem Kleidungsstück Löcher verpasst?".
    Ja, habe ich.

    "habe allerdings keinerlei Daten um meine These zu unterstützen."
    NeoSilver, mir ist auch nach mehrmaligem Lesen deines Beitrages nicht klar geworden, was deine These genau ist. Kannst du mir das bitte nochmal explizit aufschreiben?

    "Ich bin der Meinung das Ursache 2 nur eine sekundäre Beteiligung daran hat die Selbstmordrate zu erhöhen, da diese Reize zwar nervig und teilweise unerträglich sind, zu Schmerzen und zu einer Überbelastung führen aber dann doch eher organische Schäden als Folge haben sollten."
    NeoSilver, wie du richtig schreibst, ist das eine Meinung (Ansicht) und kein Faktum.
    Auf welche Fakten stützt sich deine Meinung? Kennst du Untersuchungen dazu?
    Kennst du die Unterscheidung von Orientierungs- und Defensivreaktion? Weißt du, dass die Defensivreaktion NICHT habituiert. Weißt du, dass fortgesetzte Defensivreaktionen das Stresslevel dauerhaft erhöhen und dadurch die Anfälligkeit für stressbedingte psychische Leiden (Schlaflosigkeit, Gereiztheit, Depression etc.) signifikant erhöht wird? Kennst du Untersuchungen dazu, wie es NTs seelisch ergeht, die bei der Arbeit nicht steuerbaren Stressoren ausgesetzt sind, die eine Defensivreaktion auslösen? Kennst du Untersuchungen zu Auswirkungen von Flug- und Straßenlärm auf das seelische Wohlbefinden von Menschen?
    Und so weiter.

    "Wenn ich die Fakten, welche auf Aussagen von Autisten beruhen, analysiere, ist klar, dass Autisten, ebenso wie die Nicht-Autisten, in jungen Jahren den Drang verspüren an der sozialen Welt teilzunehmen."
    Das sehe ich auch so. Dazu habe ich bereits einen Blogtext in Arbeit.

    "Dieser mit der wachsenden Anzahl an Erfahrungen teilweise abstumpft, da die Kompabtibilität nicht gegeben ist und unter Berücksichtigung der von dir in "Ursache 1" erläuterten Fakten, also der überwiegend negativen Reflektion durch die restliche Umwelt, dazu führt dass ein negative Selbstbild aufgebaut wird."
    Ich denke, dass ich nachweisen kann, dass dieses negative Selbstbild bereits in frühester Kindheit aufgebaut wird (wie in meinem Text erläutert) und dass es in späteren Jahren nur noch vertieft und verfestigt wird.

    "NeoSilver, vielleicht liegt Stillers Befangenheit auch darin, dass er sich jeden Tag aufs Neue mit den NT‘s auf eine Art und Weise und Intensität auseinandersetzen muss, wie wir es nicht tun."
    Mein ältestes Spezialinteresse ist "Menschen - wie sie sich verhalten und was sie dabei erleben." Nach den Rückmeldungen, die ich bei meiner Arbeit bekomme, bin ich weniger befangen als vielmehr außergewöhnlich klarsichtig in dieser Sache. Ich verdiene mein Geld damit, dass ich NTs erkläre, wie sie funktionieren. Die NTs "rennen mir die Bude ein" (Sprachbild), weil ich das in ihren Augen weit besser kann als jeder NT, der in diesem riesigen Konzern beschäftigt ist. Autisten funktionieren nach exakt denselben Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten wie die NTs, nur dass sie einige Parameter anders besetzen. Wie ich in meinem Blogtext über Vorurteile versuchte aufzuzeigen, kann ich beinahe immer nachweisen, dass die, die der Ansicht sind, dass ich befangen bin, wenn ich darüber rede oder schreibe, wie Menschen funktionieren, deutlich befangener sind als ich, weil sie weit weniger über Menschen wissen als ich.

    Dennoch - ich lerne jeden Tag dazu und höre mir gerne Argumente an.



  • #7

    Neo-Silver (Sonntag, 20 Mai 2018 09:11)

    An lemonbalm:
    Ich bin mir sicher das Stiller, begründet durch seine Arbeit, weitaus mehr Erfahrungen im Umgang mit Nicht-Autisten hat, als ich es habe.
    Natürlich beeinflussen Erfahrungen auch Meinungen und je mehr Erfahrungen ein Mensch gesammelt hat, desto unterschiedlich kann auch seine Argumentation sein.

    Sollte ein Mensch, rein fiktiv, nur negative oder nur positive Erfahrungen mit anderen Nicht-Autisten gesammelt haben, ist es umso schwieriger nicht befangen zu argumentieren, als wenn man a) keinerlei Erfahrung oder b) positiv und negativ ausgewogene Erfahrungen hat.
    Stiller hat dies in seinem Text über Voruteile und Toleranz gut dargestellt und gleichzeitig auch eine alte Frage beantwortet, welche du mir schon einmal gestellt hattest.

    Ich bin ähnlicher Meinung wie Octavia.
    Die Erkenntnis im Job nicht bestehen zu können resultiert aus dem Vergleich mit anderen Menschen und den von ihnen angesetzten Anforderungen.
    "Ich bin nicht gut genug"; "Ich bin anders als andere"; "Ich bin falsch", sind sehr ähnliche Gedanken.

  • #8

    Neo-Silver (Sonntag, 20 Mai 2018 09:14)

    An Stiller:
    Teil 1, bezogen auf Antwort 1

    [...]Rückmeldungen wie diese bekomme ich von Autisten häufiger, wenn ich zu dieser Thematik Stellung beziehe. Allerdings höre ich danach immer keine Argumente mehr. Es kommt nichts in dem Sinne:
    Dein Argument A scheint mir unlogisch weil ..., die Schlussfolgerung B kann ich nicht nachvollziehen, weil ich andere Erfahrungen gemacht habe.[...]

    Diese Antwort habe ich schon antizipiert, wollte aber die schon etwas reduzierte Übersichtlichkeit durch meine zwei Beiträge soweit bewahren, dass ich davon absah noch einen dritten Beitrag zu posten.

    Wenn du also schreibst: "In einer Umwelt aufzuwachsen und zu leben, die von NTs geprägt wird, ist für Asperger-Autisten potenziell tödlich." ist das vollkommen korrekt, allerdings wird in deinem weiteren Text deutlich, dass du auch eine Schuldfrage beantworten möchtest.

    Dies wird in folgender Textzeile deutlich:
    [...]Dass die Suizidrate unter uns Autisten um ein zehnfaches höher ist als bei den Neurotypischen liegt nicht daran, dass wir am Asperger-Syndrom leiden oder irgendwie gestört sind. Nein, es liegt daran, dass uns die Neurotypischen das Leben auf diesem Planeten zur Hölle machen. Sie setzen uns permanent derart grausam unter Druck, dass viele von uns nur noch einen Ausweg sehen – die Selbsttötung.[...]

    In dem Versuch diese Thematik aus der dritten Perspektive zu beurteilen ist es die Schuldfrage, welche ich nicht endgültig beantworten kann und deine Darstellung daher als Neigung zu einer Partei, im Sinne von "die Nicht-Autisten sind Schuld", also als befangen interpretiere.

    Gerade dies ist aber schwierig.
    Fakt ist, Autisten haben eine um den Faktor 9,4 erhöhte Selbstmordrate.
    Fakt ist m.M.n. auch, das der Auslöser dafür die Umwelt, welche durch Nicht-Autisten geprägt wird, ist.
    Und dies hast du eloquent erläutert und dargestellt.

    Du schreibst weiterhin: "Ich mache den NTs dafür keinen Vorwurf. Das ist ihre Art, in der Welt zu sein.", ebenso wie Autisten ihre Art in der Welt zu sein haben.
    Weiterhin sind wir uns scheinbar einig, dass eine Lösung für dieses Problem nicht einfach, gar utopisch scheint, ohne dabei den Grad des Leids auf eine der beiden Seiten zu verschieben.

    Abschließend schreibst du: "Aber wenn auch nur ein einziger Neurotypischer durch diesen Text veranlasst würde, mit dem Umdenken zu beginnen, dann wäre das schon ein Erfolg.", was m.M.n. weiterhin suggeriert, dass du die Schuld im Verhalten der Nicht-Autisten siehst.

    Mit "Nur verwahre ich mich energisch gegen die Unterstellung, dass Ursache für diese hohe Suizidrate die Autisten sind,..." verdeutlicht sich weiterhin, dass eine Schuldfrage beantwortet werden soll.
    Aber gibt es einen Schuldigen? Ich kann es weiterhin weder für die Nicht-Autisten und gegen die Autisten und vice versa beantworten.

    Ich hoffe ich konnte mit den Beispielen ansatzweise darstellen, wieso ich den Text teilweise als befangen interpretiere, was allerdings nicht bedeutet das ich nicht deiner Meinung bin.
    Es ist, wie schon erwähnt ein Gedankenkonstrukt, bei welchem ich versuche diese Frage, die Schuldfrage, aus einer gelösten Position zu betrachten.

    Ich möchte allerdings auch noch klarstellen, dass die Schuldfrage, auch wenn ich sie hier in der Argumentation in den Vordergrund gestellt habe, nicht der entscheidende Faktor sein sollte.

    Es ist wichtig zu verstehen was das Leid und die folgernde Suizidrate auslöst, allerdings ist es vermutlich sogar kontraproduktiv einen Schuldigen zu suchen, wenn diese Energie eher dafür verwendet werden könnte Lösungen zu finden, als eine vermeintlich nicht beantwortbare Frage beantworten zu wollen.

  • #9

    Neo-Silver (Sonntag, 20 Mai 2018 09:17)

    Teil 2, bezogen auf Antwort 2

    [...]NeoSilver, mir ist auch nach mehrmaligem Lesen deines Beitrages nicht klar geworden, was deine These genau ist. Kannst du mir das bitte nochmal explizit aufschreiben?[...]

    Ich bezog mich damit auf die nachfolgenden Textzeilen, in welchen ich behauptete, dass Ursache 2 nur sekundär zu einer Steigerung der Suizidrate führt.
    Dies habe ich so geschrieben, da ich Daten und Wissen über die physiologischen Folgen von Überlastungen habe, welche vor allem in organischen Schäden resultieren, allerdings nicht über genug Wissen verfüge den psychologischen Aspekt empirisch zu beurteilen.

    Das war von mir zu einfach extrapoliert, da ich sehr wohl weiß das die Psyche und Physis sich gegenseitig stark beeinflussen und wechselwirken.
    Und ja, ich kenne auch Untersuchungen dazu. Wieso ich dies in dem Bereich meines Beitrages so unterschlagen habe, kann ich dir jetzt nicht mehr beantworten. Vermutlich habe ich zu einseitig nachgedacht.

    Was denkst du, wenn du Ursache 1 und 2 gegenüberstellen und beurteilen müsstest. Beeinflussen beide gleich stark die Suizidrate oder ist psychologisch gesehen eine Ursache dominierend?

    Ps:
    Entschuldige bitte den Triple-Post.
    Es wurden über 5000 Zeichen hier festgestellt, welche im Gesamttext auf https://zeichenzähler.de/de/ aber nur 4786 Zeichen ergeben haben.
    Dabei scheint also hier ein Problem in der Programmierung zu bestehen, denn auch weitere Zeichenzähler ergaben 4786 Zeichen, wenn die Antwort an dich zusammengefasst wird.

  • #10

    Stiller (Montag, 21 Mai 2018 09:30)

    Hallo Neo-Silver,
    danke für diesen wichtigen Hinweis:
    "allerdings wird in deinem weiteren Text deutlich, dass du auch eine Schuldfrage beantworten möchtest."
    Hier liegt ein Missverständnis vor. Vermutlich tritt es häufiger auf, wenn meine Texte gelesen werden.
    Also:
    Ich definiere mich als Wissenschaftler. Mir geht es keinesfalls darum, die Schuldfrage zu klären, sondern die Wirklichkeit zu beschreiben. Mir geht es um Ursache und Wirkung und nicht um Schuld. Ethisch-moralische Begriffe wie "Schuld" sind definitiv nicht geeignet, um die Wirklichkeit zu beschreiben, denn Ethik und Moral bewegen sich immer innerhalb eines von Menschen gesetzten und verhandelbaren Bezugsrahmens.
    Ich schaue mir immer folgendes an: 1.) Folgt auf ein A ein B und wenn ja mit welcher Wahrscheinlichkeit? 2.) Ist es möglich, dass zwischen A und B nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein kausaler Zusammenhang besteht? Wenn ja - was sind die kausalen Wirkmechanismen? Wenn kein kausaler Zusammenhang besteht - was ist die dritte Variable, die dieses zeitliche Zusammengehen von A und B kausal bedingt?

    Wenn ich Konflikte zu klären oder zu managen habe (was in meinem Beruf sehr häufig vorkommt), gehe ich immer in einem sechsschrittigen Algorithmus vor. Die ersten beiden Schritte sind: 1) Sachlage klären. 2) Sachlage bewerten. Manchmal versuchen die Konfliktparteien den Schritt 2) mit der Klärung der Schuldfrage zu verwechseln. Aber ich kann logisch nachweisen, dass jemand die Realität verlässt, wenn er statt am Problem (aus A folgt B) zu arbeiten, die Schuldfrage klären will.

    Wenn ich in meinem Text die Sachlage bewerte und meiner Bestürzung und Betroffenheit über diese extrem hohe Suizidrate Ausdruck gebe, beschreibe ich also nicht mehr die Wirklichkeit und suche auch nicht mehr nach Ursache-Wirkungsketten. Aber ich beschäftige mich trotzdem nicht mit der Frage, wer Schuld ist, sondern erkläre, dass aus meiner Sicht dringender Handlungsbedarf besteht.

    Also kurz:
    Nein, ich will nicht die Schuldfrage beantworten.
    Die Klärung der Schuldfrage hat keinerlei Relevanz für mich.

    Du fragst:
    "Aber gibt es einen Schuldigen?"
    Nein. Es gibt keinen Schuldigen. Es gibt nur Beteiligte. Auch das kann ich logisch nachweisen.

    "Ich hoffe ich konnte mit den Beispielen ansatzweise darstellen, wieso ich den Text teilweise als befangen interpretiere"
    Ja, ich glaube zu verstehen. So wie ich die Dinge sehe, hast du deine Befangenheit in meinen Text projiziert.

    "Ich bezog mich damit auf die nachfolgenden Textzeilen, in welchen ich behauptete, dass Ursache 2 nur sekundär zu einer Steigerung der Suizidrate führt."
    Da haben wir in der Forschungsmethode immer eine Schwierigkeit:
    1) Wir können die, die Suizid begangen haben, nicht befragen, denn die sind tot.
    2) Wir können die Lebenden zwar befragen, aber die haben (bislang) keinen Suizid begangen.
    Ich kann dir aus meinem Erleben sicher sagen, dass der menschgemachte Schall, dem ich in meinem Leben unentrinnbar ausgesetzt bin, Suizid immer wieder als sehr verlockend erscheinen lässt, weil es danach definitiv still für mich wäre. In welchem Maße das auch auf andere Autisten zutrifft, kann ich dir nicht sagen. Wenn das nicht auf dich zutrifft, dann ist das sehr schön für dich.

    Du fragst:
    "Was denkst du, wenn du Ursache 1 und 2 gegenüberstellen und beurteilen müsstest. Beeinflussen beide gleich stark die Suizidrate oder ist psychologisch gesehen eine Ursache dominierend?"
    Ich halte Ursache 1 für die absolut dominierende.

    "Entschuldige bitte den Triple-Post"
    Das ist völlig ok für mich.

    Du schreibst:
    "Dabei scheint also hier ein Problem in der Programmierung zu bestehen, denn auch weitere Zeichenzähler ergaben 4786 Zeichen, wenn die Antwort an dich zusammengefasst wird."
    Das ist sehr gut möglich.

  • #11

    Schnattna (Donnerstag, 24 Mai 2018 12:21)

    Immer wieder ein sehr erschreckendes und leider weiterhin höchst relevantes Thema.
    Ähnlich Neo-Silvers Ausführungen habe ich den „Schuld-Gedanken“ etwas zu dominierend empfunden, angesichts der hohen Emotionalität dieses Themas aber auch nicht wirklich verwunderlich oder gar verwerflich.

    Ergänzenswert und für die Debatte nicht ganz irrelevant finde ich, dass die Selbsttötung an sich ein epidemiologisch nicht unerheblicher Faktor in der Gesamtstatistik der Todesursachen ist. Es ist meiner Meinung nach noch viel Forschung und breite Umsetzung aus schon als wirksam die Suizidrate senkenden Projekte notwendig, um diesem Problem und den vielen Menschen, die davon betroffen sind, überhaupt ansatzweise gerecht zu werden.

    Mir ist dazu auch deine Abgrenzung aufgefallen, dass du ja „nicht gestört“ bist, sondern die Umgebung dich in dieses Leid treibt. Das impliziert für mich, dass andere neurotypische suizidale Menschen hingegen gestört seien müssten. Denn deren neurotypische Umgebung „passt“ ja zu ihnen. Trotzdem äußern sie aber ganz ähnliche Gedanken und Gefühle wie du als Autist.
    Das nicht dazu passen. Das den Anforderungen der Gesellschaft bzw. Umgebung nicht gerecht werden. Das explizit oder implizit vermittelte „du bist falsch“. Dies lässt sich gut bei genauerer Betrachtung anderer vulnerabler Bevölkerungsgruppen ableiten. Homo- oder Transsexuelle beispielsweise wählen oft genau diese Worte - die heteronormative Gesellschaft gibt ihnen keinen Raum, sieht sie als falsch.

    Die Frage ist, was können wir als Gesellschaft tun?
    Ich denke diese Frage lässt sich nicht kurz und pauschal beantworten, jede vulnerable Gruppe (und dabei nochmal jedes Individuum) hat eigene multifaktorielle Gründe für die erhöhte Suizidrate, einige deckungsgleiche Faktoren erscheinen mir gleichzeitig einfach und schwierig angehbar. So sollte wohl klar sein, dass anderen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie falsch seien, dass sie aufgrund irgendeiner Besonderheit oder Andersartigkeit nicht dazugehörten, dass permanent Druck auszuüben, dem der andere nicht gerecht zu werden droht, Dinge sind, die jeder von uns in seinem Alltags- und Berufsleben minimieren sollte. Das ist eine banale Erkenntnis, die glaube ich die meisten nicht vor ein Aha-Erlebnis stellen wird...und das ist es, was so gleichzeitig schwierig an dieser einfachen Sache ist: die Umsetzung von der Erkenntnis in die Tat.
    Ich hoffe, dass Blogeinträge wie dieser dazu weiter sensibilisieren - ich hoffe aber auch, dass Blogschreiber wie du, sich auch selbst als Teil dieser Gesellschaft sehen und anderen Betroffenen so achtsam begegnen.

  • #12

    Stiller (Donnerstag, 24 Mai 2018 21:39)

    Hallo Schattna,

    vielen Dank für deinen Beitrag und die zahlreichen interessanten Gedanken. Ich will auf einzelne eingehen:

    "Ähnlich Neo-Silvers Ausführungen habe ich den „Schuld-Gedanken“ etwas zu dominierend empfunden, angesichts der hohen Emotionalität dieses Themas aber auch nicht wirklich verwunderlich oder gar verwerflich."
    Ich glaube, nachweisen zu können, dass wir, wenn wir Probleme lösen wollen, nicht weiter kommen, wenn wir Energie darauf verwenden, die Schuldfrage zu klären. Das führt auf verschiedenen Ebenen aus der Realität heraus. Aber wir brauchen alle unsere Energie und Aufmerksamkeit in der Realität, wenn wir in dieser Sache voran kommen wollen.

    "Ergänzenswert und für die Debatte nicht ganz irrelevant finde ich, dass die Selbsttötung an sich ein epidemiologisch nicht unerheblicher Faktor in der Gesamtstatistik der Todesursachen ist."
    Wenn ich es richtig im Kopf habe, war der Suizid in der Forschungsarbeit, auf die ich mich bezog, unter den 14 Todesursachen eine der seltensten.

    "Mir ist dazu auch deine Abgrenzung aufgefallen, dass du ja „nicht gestört“ bist, sondern die Umgebung dich in dieses Leid treibt. Das impliziert für mich, dass andere neurotypische suizidale Menschen hingegen gestört seien müssten."
    Diese Schlussfolgerung scheint mir nicht logisch zu sein.
    Wenn ich sage, dass Katzen wegen ihrer Furcht vor Hunden ins Meer springen und bei einer weiteren Beobachtung feststelle, dass auch Hunde ins Meer springen, dann sage ich nichts über den Grund aus, warum die Hunde ins Meer springen. Das müsste dann eine weitere, seperate Untersuchung zutage fördern.

    "Die Frage ist, was können wir als Gesellschaft tun?"
    Diese Frage ist in meiner Welt ein Widerspruch in sich. Ich bin ein Ich und kein Wir. Für mich ist die primär relevante Frage:
    "Was kann ich als Individuum tun?"
    Diese Frage habe ich beinahe jeden Tag in Arbeit.
    Mein Einfluss auf das, was die Gesellschaft tut, ist vergleichsweise gering.
    Mein Einfluss auf das, was ich als Individuum tue, ist vergleichsweise hoch.
    Also ist es für mich logisch, dass ich, wenn ich etwas verändern will, mich primär auf das konzentriere, was ich tue.

    "So sollte wohl klar sein, dass anderen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie falsch seien, dass sie aufgrund irgendeiner Besonderheit oder Andersartigkeit nicht dazugehörten, dass permanent Druck auszuüben, dem der andere nicht gerecht zu werden droht, Dinge sind, die jeder von uns in seinem Alltags- und Berufsleben minimieren sollte."
    In den allermeisten Fällen ist es mir sehr wichtig, dass ich NICHT dazugehöre. In den meisten anderen Fällen ist es mir fast völlig gleichgültig, ob ich dazugehöre oder nicht. Ich will nur nicht wegen meiner Andersartigkeit angefeindet oder unter Druck gesetzt werden. Ich habe kaum soziale Bedürfnisse.

    "Das ist eine banale Erkenntnis" die für meinen speziellen Fall so nicht richtig ist.
    Ich würde sie niemals unterschreiben. Ich erlebe als vermutlich schwerste Belastung in meinem Leben den Wunsch der anderen, dass ich dazugehören soll. Will ich aber nicht. Ich will in Ruhe gelassen werden.

    "ich hoffe aber auch, dass Blogschreiber wie du, sich auch selbst als Teil dieser Gesellschaft sehen und anderen Betroffenen so achtsam begegnen."
    Ich bin, ob ich das will oder nicht, Teil dieser Gesellschaft.
    Ich arbeite jeden Tag an meiner Achtsamkeit. Aber ich bin weit, weit davon entfernt, anderen mit der Achtsamkeit zu begegnen, die sie verdienen. Das ist ein langer Weg.