Wenn du willst 02

A

Ich war 16 Jahre alt, als mir mein alter Füller vom Schreibtisch rollte: Roller, roller, roller, - klack!

Er fiel auf den Boden. Dort blieb er liegen.

Voller Staunen schaute ich mir das an. Ich saß wirklich lange da und war völlig versunken in diese Wahrnehmung und in mein Staunen.

Es war nicht das erste Mal, das mir was runter fiel. Aber es war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass die Dinge alle nach unten fielen. Warum taten die das? Warum schwebten sie nicht einfach davon oder verwandelten sich in eine Schwanenfeder?

 

Ich beschloss, dem auf den Grund zu gehen. Ich wollte verstehen, worum es ging.

 

1

Wenn ich mich richtig erinnere, war ich 17 Jahre alt, als mir der Unterschied zum ersten Mal auffiel.

Mein Religions-Leistungskurs hatte eine Selbsterfahrungsgruppe gegründet, die uns sehr viel bedeutete. Wir lernten dort unter professioneller Anleitung TZI – themenzentrierte Interaktion. Das fand immer am späten Nachtmittag oder frühen Abend statt und dauerte mehrere Stunden. Wir trafen uns alle drei bis vier Wochen an wechselnden Orten. Wir lernten eine ganze Menge – über uns selbst und über Kommunikation.

 

Es war Winter. Es war tief verschneit. Kein Bus, kein Auto fuhren. Ich wollte aber zu TZI. Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Das waren knapp sechs Kilometer. Da ich durch den tiefen Schnee stapfen musste, dauerte es beinahe drei Stunden, aber ich kam gerade eben noch pünktlich an.

 

Am Zielort angekommen stellte ich fest, dass außer mir buchstäblich niemand da war. Das blieb auch so. Ich wartete. Niemand kam. Ich machte mich wieder auf den Rückweg. (Für meine lebensjüngeren Leser: Handys gab es damals noch nicht. Man konnte also nicht einfach die Leute anrufen und sie fragen, wo sie denn blieben).

 

Als ich diesen Vorfall in der nächsten Unterrichtsstunde zur Sprache brachte, erntete ich Unverständnis. Es hätte ja so viel Schnee gelegen, da hätte man nicht kommen können. Das sei doch selbstverständlich! Ich war verblüfft, wie völlig einig sich alle anderen waren, dass man bei solchen Umständen nicht kommen könne. Ich wusste, wie viel ihnen dieser TZI-Kurs bedeutete und wie viel sie jedes Mal daraus mitnahmen. Und dennoch waren sie wegen des Schnees nicht gekommen. Und die meisten hatten weit kürzere Wege als ich. Es war mir komplett unbegreiflich. Ganz offensichtlich war hier eine Kluft zwischen uns, die nicht überbrückbar war. Wenn ich etwas wollte, dann wollte ich das. Wenn die anderen etwas wollten, dann redeten sie offenbar davon, dass sie es wollten.

 

„Dann scheint mir das ja wesentlich wichtiger zu sein als euch“, resümierte ich schließlich.

 

 

2

Mein Studium neigte sich dem Ende zu. Es war an der Zeit, eine Diplomarbeit anzufertigen. Diplomarbeit schreiben war für die meisten von uns eine ziemlich ernste und zeitintensive Sache. Die meisten schrieben etwas mehr als ein Jahr an ihrer Arbeit. Irgendwann vor Urzeiten sollte es mal jemanden gegeben haben, der nur sechs Monate gebraucht hatte. Aber das war vermutlich nur so eine Legende.

Durch verschiedene verwickelte Umstände kam es dazu, dass mir für das Schreiben der Diplomarbeit nur exakt vier Wochen zur Verfügung standen – vom 15. Januar bis zum 14. Februar.

 

Ich hatte durchaus ernsthaftes Interesse daran, mein Studium erfolgreich abzuschließen. Also machte ich mich an die Arbeit. Ich recherchierte Literatur, konzipierte eine wissenschaftliche Untersuchung, führte sie durch, wertete sie nach allen Regeln der mathematischen Kunst aus und schrieb meine Ergebnisse zusammen.

 

Ich arbeitete buchstäblich Tag und Nacht. In manchen Nächten schlief ich zwei Stunden, in manchen Nächten schlief ich vier Stunden. Und von dem Moment an, an dem ich die Augen öffnete fing ich an zu arbeiten. Das Denken lief in diesen vier Wochen rund um die Uhr. Ich habe die Fähigkeit, auch im tiefsten Schlaf intensiv nachzudenken, und das machte ich mir hier zunutze.

 

Es blieb wenig Zeit zum Essen. So nahm ich über zehn Kilo ab. Aber die Arbeit wurde fertig. Sie wurde mit einer 2,3 bewertet.

 

Wenn ich etwas will, dann will ich das.

 

 

3

Als ich nach meinem Studium eine feste Anstellung suchte, war gerade Rezession. Da ich Autist bin, stellte ich mich bei Bewerbungen vermutlich auch nicht besonders geschickt an. 10 Monate war ich arbeitslos. Ich schrieb 113 Bewerbungen. Dreimal wurde ich zu Gesprächen eingeladen.

Meine damalige Freundin (die Frau, mit der ich heute de jure verheiratet bin), sah meine finanziellen Reserven rapide dahinschwinden.

„Was willst du denn machen, wenn das Geld alle ist?“ wollte sie wissen.

„Dann wandere ich aus. Wenn’s in Deutschland nichts gibt, werde ich woanders was finden.“

„Waaaas?!“ Sie war völlig entsetzt.

„Australien, Kanada, USA“, fuhr ich ungerührt fort, „irgendwo werde ich schon was finden.“

Ich war mit meiner Freundin seit sieben Jahren zusammen. Sie kannte mich gut. Sie wusste, dass ich das völlig ernst meinte. Sie wusste auch, dass ich das durchziehen würde. Wenn ich etwas will, dann will ich das.

Meine Freundin hatte von jetzt an eine sehr schlechte Zeit und hoffte inständig, dass ich in Deutschland einen Job finden würde.

 

So ist das eben manchmal in Krisenzeiten – die einen hoffen, die anderen tun.

 

 

4

Ich fand einen Job in einer weit entfernten Stadt – aber in Deutschland. Ich zog um. Es war beruflich die zweithärteste Zeit, die ich je erlebt habe. Mein Arbeitgeber war eine kleine Unternehmensberatung, die sich auf die Beratung von Vertrieben spezialisiert hatte. Das Führungsverhalten meines Vorgesetzten nannten dessen Kollegen „Management by Terror“. Es war eine sehr treffende Beschreibung. Mein Vorgesetzter war er eine Art „Durchlauferhitzer“ für Mitarbeiter. Noch nie hatte es bei ihm ein Mitarbeiter länger als ein Jahr ausgehalten. Ich aber wusste, dass ich mindestens zwei Jahre Berufserfahrung brauchte, um mich wegbewerben zu können. Wie oft hatte ich das in Stellenanzeigen gelesen: „Voraussetzung: Mindestens zwei Jahre Berufserfahrung.“

 

Aber wie hält man bei einem Chef durch, der ein emotionaler Analphabet ist und beinahe ständig das soziopathische Mobbingmonster gibt? Ich testete unterschiedliche Strategien durch und entschied mich dann für den Weg: „Ich arbeite alles in Grund und Boden.“

Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo ich regelmäßig 16 bis 20 Stunden am Tag arbeitete. In einer besonders arbeitsintensiven Phase arbeitete ich einmal ganze 23 Tage am Stück. An keinem dieser Tage arbeitete ich weniger als 12 Stunden. (Und mein Gehalt war sehr bescheiden – weniger als ein Viertel von dem, was ich heute verdiene).

 

Es waren extrem harte Zeiten. Aber ich wollte Familie gründen und dafür brauchte ich ein regelmäßiges Einkommen. Und einen anderen Job. Also musste ich diese zwei Jahre irgendwie durchstehen.

 

Es gelang.

Ich kenne viele Menschen, die davon reden, was sie alles wollen.

 

Wenn ich etwas will, dann will ich das.

 

 

5

Als ich mich nach ca. einem Jahr in meinem Job „freigeschwommen“ hatte und die regelmäßigen täglichen Arbeitszeiten auf ca. 12 Stunden eingependelt hatten, nahm ich meine Psychotherapie wieder auf. Das war mir ziemlich wichtig. Und so begann ich wieder, regelmäßig zu den wöchentlichen – mehrstündigen - Gruppentherapiesitzungen zu erscheinen.

Irgendwann sprach mich eine kleinere Gruppe von Therapieteilnehmern an:

„Du, da ist das Kennzeichen von [Name einer deutschen Großstadt] an deinem Auto.“

„Ja, da wohne und arbeite ich jetzt.“

„Waaas?! Wie weit fährst du denn da?“

„258 Kilometer.“

„Wie bitte?!“

„Eine Strecke. Hin und zurück sind das dann mehr als 500 Kilometer.“

„Wann bist du denn dann wieder zuhause?“

„Weiß nicht. Irgendwann nach Mitternacht.“

Sprachloses Entsetzen. Schweigen.

„Also ich könnte das nicht“, murmelte dann eine Frau.

„Dann wird es dir wohl nicht so wichtig sein wie mir.“

 

 

5

Das sind nur einige, wenige Beispiele aus meinem Leben. Ich könnte buchstäblich hunderte solcher Episoden schildern.

Mir fällt das seit Jahrzehnten auf:

Während viele Menschen, die mich umgeben, gerne wortreich davon erzählen, was sie alles wollen, will ich. Ich rede nicht, ich tue. Sie reden. Meistens tun sie nicht. Vielleicht steht ihnen weniger Energie zur Verfügung als mir, vielleicht reicht es ihnen auch, wenn sie davon reden, was sie alles wollen. Ich weiß das nicht.

 

Meine Startbedingungen waren von Anfang an saumäßig schlecht. Finanziell, seelisch und sozial komme ich von ganz unten. Ich komme von noch deutlich weiter unten als Hartz IV. Das war so derart weit unten - untiger geht es vermutlich kaum. Jedenfalls nicht in Deutschland. Ich wollte immer schon ein anderes Leben haben. Ich habe mich noch nie in meinem Leben damit abgefunden, dass das, was mir da an Leben, an Zufriedenheit, an Wohlstand von der Familie und von meinem Umfeld zugestanden wurde, alles gewesen sein sollte. Ich wollte mehr. Ich wollte schon immer alles erreichen, was irgendwie erreichbar war. Mein Lebensmotto könnte sein: „Bis hierher und weiter!“ Und wenn mir noch so viele „Experten“, Ärzte, Therapeuten und „Menschenkenner“ noch so oft beteuert haben, dass es ein gutes Leben bei meiner Vergangenheit für mich nicht geben würde … Damit wollte ich mich nie abfinden. Niemals!

 

Wenn ich will, dann will ich.

Und wenn es nicht so geht, dann geht es eben anders.

 

 

B

Ich war 46 Jahre alt, als ich in einer meiner Lieblingsimbissstuben zufrieden meine Kladde zuklappte und meinen Bleistift wegpackte. Endlich hatte ich die Antwort.

30 Jahre lang hatte ich mich damit beschäftigt, warum Dinge auf den Boden fallen, wenn sie fallen. Nach einigen Jahren intensiven Nachforschens hatte ich begriffen, dass wenn überhaupt, nur die theoretische Physik mir diese Frage beantworten konnte. Also hatte ich begonnen, mich in dieses Fach zu vertiefen. Ich hatte mir die nötigen mathematischen Grundlagen beigebracht und dann angefangen, Lehrbücher zur theoretischen Physik durchzuarbeiten. Und so saß ich in meiner Freizeit jahrelang in irgendwelchen Imbissbuden, kaute auf irgendeinem Brötchen und kritzelte mit Bleistift Formeln in kleine Kladden. Ich hatte mir vorgenommen, diese Mathematik „auseinanderzunehmen bis auf die letzte Schraube und dann wieder zusammenzubauen. 

 

Und jetzt war ich so weit: Ich konnte den aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft zur Frage:

„Warum fallen Dinge runter?“

exakt begreifen und in allen Verästelungen wiedergeben.

Die Antwort – zumindest damals (vor der Entdeckung des Higgs-Bosons) - war:

„Wir wissen es nicht.“

 

Exakt 30 Jahre hatte ich nach der Antwort auf meine Frage gesucht. Ich war sehr zufrieden. Ich hätte auch 40, 50 oder 60 Jahre gesucht. Ich hätte gesucht, bis ich in die Grube gefahren wäre.

 

Wenn ich etwas will, dann will ich das.

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Kommentare: 2
  • #1

    Neo-Silver (Samstag, 05 Mai 2018 19:54)

    Da du ein Spezialinteresse von mir als Beispiel verwendest und dabei direkt auf das Higgs-Boson hinweist, stelle ich mir die Frage, wieso du dort eine Verbindung von Gravitation und Teilchenphysik implizierst.
    Eventuell hast du Kenntnisse, welche mir noch unbekannt sind und ich würde sie gerne lesen.

    Das Higgs-Feld und sein Boson erklären zwar wieso einige Elementarteilchen eine Masse haben, ebenso auch die Geschehnisse der schwachen Kernkraft, aber mit der Anziehungskraft konnte m.M.n. noch keine Verbindung hergestellt werden.
    Zumal wir dann auch davon ausgehen müssten, dass die Anziehungskraft über ein Teilchen übermittelt wird, welches bisher noch nicht nachgewiesen worden ist, auch wenn es einige Hypothesen dazu gibt.

    Also bleibt auch nach wie vor die Antwort auf die Frage, warum Dinge auf den Boden fallen nicht abschließend geklärt.

    Was genau meinst du also mit: "Die Antwort – zumindest damals (vor der Entdeckung des Higgs-Bosons) - war:"?

  • #2

    Stiller (Sonntag, 06 Mai 2018 00:55)

    Ich hatte noch keine Möglichkeit, mir die zum Higgs-Boson gehörenden Feldgleichungen anzuschauen. Ich weiß also nicht, ob wir der Antwort auf die Frage, warum sich Massen anziehen, näher gekommen sind. (Ich vermute aber, dass wir das nicht sind).
    Ich habe das Higgs-Boson in meinem Text deshalb erwähnt, weil ich davon ausging, dass der/die eine oder andere Leser bzw. Leserin mit der Materie vertraut ist. Für diese Menschen wollte ich klarstellen, dass mein Kenntnisstand der vor der Entdeckung des Higgs-Bosons ist.