Das schwarze Loch

„Intelligenz ist die Fähigkeit, sich dem Wandel anzupassen.“

(Zitiert nach einem jüngst verstorbenem und zu seinen Lebzeiten sehr berühmtem Physiker, der unser Wissen über schwarze Löcher erheblich erweitert hat).

 

 

Als ich 16 Jahre alt war, stellte ich von einem Tag auf den anderen fest, dass ich mich ohne jegliche soziale Beziehung durch die letzten Jahre geträumt hatte. Das war wie ein plötzliches Erwachen. Ich fühlte mich schrecklich einsam und beschloss, das zu ändern.

 

Es mussten also Freunde her. Aber ich hatte keine Ahnung, wie man Freundschaften schloss. Also begann ich, Gleichaltrige dabei zu beobachten, wie sie Beziehungen knüpften. Schnell stellte ich fest, dass die anderen Jugendlichen sich immer angeregt unterhielten, wenn sie sich trafen.

Aber ich hatte keine Ahnung, wie man eine Unterhaltung führte. Was sagte man als erstes, was sagte man als zweites? Wer wählte die Themen aus? Wer durfte wen unterbrechen? Und so weiter – da türmten sich buchstäblich hunderte Fragen auf.

Also beschloss ich, das alles zu lernen.

 

Ich lernte buchstäblich Tag und Nacht. Tagsüber in der Schule beobachtete ich. Zuhause machte ich mir Notizen dazu und wertete sie aus. Aus den Auswertungen leitete ich Hypothesen ab, die ich dann in der Schule testete. Und so weiter. Und nachts, während ich schlief, dachte ich nach. (Ich stellte erst sehr viel später fest, dass viele andere Menschen nicht die Fähigkeit haben, nachzudenken, während sie schlafen).

 

Ich war recht erfolgreich. Schon als ich 17 Jahre alt war, bevölkerten einige Freunde meine Welt. Wobei – wenn ich genau hinschaue, dann fällt mir auf, das vor allem junge Frauen meine Welt bevölkerten. Mit Männern konnte ich vergleichsweise wenig anfangen. Das hing aber vielleicht auch damit zusammen, dass ich mich so oft über Gefühle unterhalten wollte.

 

Wie auch immer – obwohl ich so viel und so schnell lernte, eckte ich immer noch ganz häufig an. Klar – das neu Gelernte musste ja erst noch richtig eingeübt werden. Aber dann gab es da auch Dinge, wo ich anfangs überhaupt nichts begriff und erst nach langen, langen Gesprächen zur Überzeugung kam, dass hier etwas sein musste, was ich nicht wahrnehmen konnte.

 

So gab mir zum Beispiel meine Freundin Heike den Spitznamen „Das schwarze Loch.“

Es war wie immer, wenn ich mit einer Frau zusammen saß: Wir saßen auf dem Fußboden nebeneinander. Sie erzählte was, ich erzählte was und während sie erzählte, hörte ich ihr aufmerksam zu.

„He!“ stieß sie mich an.

„Ja?“ fragte ich verblüfft.

„Hörst du mir eigentlich zu?“

„Ja, sicher doch. Was sonst?“

„Aber du sagst gar nichts!“

„Nein. Du sagst ja was. Und ich höre dir zu.“

„Aber du sagst nichts.“

„Nein, ich höre zu.“

„Aber dann musst du das auch zeigen!“

????

 

Ich begriff das nicht. Ich begriff das über viele Monate nicht, obwohl einige Freundinnen mir ähnliche Rückmeldung gaben:

„Ich weiß nie, ob du mir zuhörst oder nicht!“

„Ich höre dir zu.“

„Aber von dir kommt nichts zurück.“

„Ja, und?“

„Heike nennt dich „Das schwarze Loch“, weil von dir nie was zurückkommt, wenn man dir was sagt.“

„Ja, was soll denn von mir zurückkommen?“

Ich verstand überhaupt nichts mehr.

 

Da ich schon damals ein talentierter Zuhörer war und über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte, begann ich damit, meinen Freundinnen wortwörtlich zu wiederholen, was sie gesagt hatten. So konnte ich ihnen beweisen, dass ich ihnen aufmerksam zugehört hatte. Manche von ihnen neigten dazu, mir zehn, fünfzehn Minuten am Stück irgendwas zu erzählen. Machte nichts: Ich hatte das alles abgespeichert. Immer wieder war ich in der Lage, das auch nach Wochen oder sogar Monaten wörtlich wieder abzurufen.

 

Aber versteh einer die Frauen! – Das war auch wieder nicht richtig!

Sie hatten mir gesagt, dass sie nicht sicher waren, ob ich zuhörte.

Ich hatte es ihnen bewiesen, indem ich ihnen wortwörtlich wiedergab, was sie gesagt hatten. Das war also der unwiderlegbare Beweis, dass ich zugehört hatte. Aber anstatt zufrieden zu sein waren meine Freundinnen noch weniger zufrieden als zuvor.

 

Heute glaube ich genau zu wissen, worum es meinen NT-Freundinnen damals ging. Aber als junger Mann stand ich vor einem kompletten Rätsel.

Also ließ ich mich einweisen.

Eine von diesen Freundinnen las irgendwelche Sozio-Psycho-Bücher und machte mich mit dem Begriff „Aktives Zuhören“ vertraut. Ich begriff nichts.

„Aktives was?“

„Aktives Zuhören. Damit signalisierst du dem anderen, dass du ihm zuhörst.“

„Aber das tu ich doch!“

„Aber man merkt nichts davon. Du sitzt nur völlig still und regungslos da. Du verziehst keine Miene. Du könntest auch ein Stein sein. Du bist das schwarze Loch.“

„Ja, so kann ich dir am besten zuhören.“

„Aber du signalisierst es nicht.“

„Soll ich dir nochmal wiederholen, was du vorhin alles gesagt hast?“

„Nein, darum geht es nicht.“

„Worum geht es dann?“

„Es geht darum, dass der andere während er spricht auch merkt, dass du ihm zuhörst.“

„Aber wozu das denn?“

„Damit er weiß, dass du ihm zuhörst.“

„Aber das weiß er doch.“

 

Wie gesagt – ich begriff nichts. Ich stand vor einem kompletten Rätsel.

 

Wir sprachen oft über derlei Zeug. Die Frauen, die mich umgaben, mochten mich und ließen es sich nicht nehmen, mich zu schulen und in all diesen Sozialkram einzuweisen, den ich nicht verstand. Die Frauen, die mich umgaben, waren freundliche und hilfsbereite Menschen.

 

„Es geht darum, dass er andere sich angenommen fühlt, während er spricht.“

„Wie - angenommen?“

„Ja, emotional abgeholt.“

„Emotional abgeholt?“

„Ja.“

„Was ist das? Wie holt man jemanden „emotional ab“?“

„Ja, durch Kopfnicken, durch ein eingestreutes „Ja“, dadurch, dass du immer wieder mal sagst: „Ich verstehe“ – lauter solche Sachen. Verstehst du?“

„Nein.“

„Also … Nochmal ganz langsam …“

Die Frauen, die mich umgaben, waren sehr geduldige Menschen.

 

Irgendwann fing ich an, das zu trainieren. Mit dem Kopf zu nicken, während andere sprachen fand ich komplett schwachsinnig. Wozu sollte das gut sein? Ich konnte viel besser zuhören, wenn ich das sein ließ. Ich wollte lieber wieder das schwarze Loch sein und völlig unbewegt auf dem Boden neben einer Frau sitzen und ihr aufmerksam zuhören, während sie sprach. Dabei fühlte ich mich wesentlich wohler.

 

Aber dann merkte ich in den nächsten Monaten allmählich, dass es meine Zuhörer – männliche wie weibliche – deutlich entspannte, wenn ich immer wieder mit dem Kopf wackelte, wenn sie mit mir redeten. Das war irgendwie auch lustig. Ich wackelte mit dem Kopf, ich sagte „Aha!“ oder ich murmelte beiläufig „verstehe“ – und die Anderen nahmen das begeistert auf. Menschen waren sehr eigentümliche Wesen.

 

Irgendwann wurde das „Aktive Zuhören“ zu meiner zweiten Natur. Vor allem beruflich mache ich das inzwischen automatisch: Irgendjemand sagt was, und ich gebe ihm zwischendurch immer wieder Rapport, was das in mir auslöst. Kann man so machen. Ich habe mittlerweile auch nicht mehr den Eindruck, dass es viel Energie vom konzentrierten Zuhören abzieht. Damals wie heute scheint es den NTs gut zu tun, wenn ich ihnen zuhöre. Wenn ich das dann aber noch mit „Aktivem Zuhören“ untermale, dann fühlen sie sich gleich noch viel besser.

 

Irgendwann dachte ich dann, dass ich es „geschafft“ hätte.

Aber nein – besagte Heike, die die mich als erste „Das schwarze Loch“ genannt hatte, machte direkt das nächste Kapitel auf.

Auf einem stundenlangen Spaziergang durch den Wald sagte sie mir plötzlich:

„Du musst mal an deiner Stimme was machen.“

„Was?!“

„Wenn du redest, hört sich das immer vollkommen monoton an.“

Ich blieb stehen und bedachte das. Ich verstand nicht. Sie blieb auch stehen und schaute mich an.

„Was?“ fragte ich schließlich.

„Ja“, führte sie aus, „deine Stimme ist wie ein bleistiftdünner Strahl, der immer die gleiche Farbe und Intensität hat.“ Sie machte mit den Händen verschiedene Gesten, die das mit dem „bleistiftdünnen Strahl“ pantomimisch untermauern sollten.

Ich zuckte mit den Achseln.

„Da ist kein Pepp drin“, eröffnete Heike mir. „Da kann man dir kaum zuhören. Du schläferst die Leute ein.“

Dass die Menschen in meiner Umgebung ruhiger wurden und manchmal sogar tatsächlich einschliefen, war mir auch schon aufgefallen. Und das sollte an meiner Stimme liegen?

 

Es war ein langer Spaziergang und Heike erzählte mir viel zu meiner Stimme. Noch viel länger als dieser Spaziergang war mein Weg in die NT-Welt. Ich hatte keine Ahnung, dass ich Autist war. Also setzte ich so ziemlich alles, was mir an Energie, Geist, Kreativität, Mut und Ausdauer zur Verfügung stand, daran, so zu werden wie die anderen. Ich lernte schnell und gut, aber über viele Jahre schien der Berg dessen, was ich da noch zu lernen hatte, stündlich anzuwachsen. Das war oft zum Verzweifeln.

 

Ich arbeitete an meinem Zuhören, ich arbeitete an meiner Stimme, ich arbeitete an meiner Gestik, ich arbeitete an meiner Körperhaltung, ich arbeitete an meiner Mimik ….

Das war schon ein komplexes Programm!

Ich habe Schauspielunterricht genommen, ich habe mich von professionellen Sängern in die Grundzüge der Stimmbildung einweisen lassen, ich habe jahrelang vor dem Spiegel geübt, ich habe jahrelang mit dem Mikrofon gearbeitet ….

Und so weiter.

 

Seit ein paar Jahren weiß ich, dass ich Autist bin. Seitdem versuche ich, der Autist zu werden, der ich bin. Das ist so als wollte man einen Bach renaturieren, der in jahrzehntelanger Arbeit begradigt wurde. Ich will vielleicht nicht wieder das schwarze Loch werden. Aber ich will der Autist werden, der ich bin. Auch das scheint ein sehr anspruchsvolles und komplexes Programm zu sein, nachdem ich über Jahrzehnte in der Gegenrichtung unterwegs war. Ich hoffe, dass der Weg in den Autismus für mich nicht genauso weit und so mühsam ist wie der Weg in die NT-Welt.

 

Wir werden sehen. Angeblich soll ich ja ziemlich intelligent sein. Und es gibt Menschen, die der Meinung sind, dass Intelligenz die Fähigkeit ist, sich dem Wandel anzupassen.

 

Wir werden sehen.

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